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Zweiter Anlauf

In der Straßenschule der Treberhilfe lernen Schulabbrecher Mathe, Deutsch und neues Selbstbewusstsein.

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Von Anna Hoben

Die Zukunft von Nicole, Kerstin und Nathan fängt am Albertplatz in der Neustadt an, genauer gesagt, in den Räumen des Sozialvereins Treberhilfe. Eine Tafel, ein Tisch, kahle Wände. Seit September gehen sie hier zur Schule. Zu dritt sind sie eine Klasse. Zunächst haben die jungen Leute genau zwei Fächer: Mathe und Deutsch. Sie kommen nur zweimal pro Woche. Ihre Lehrer sind teilweise jünger als sie selbst.

Auch sonst ist einiges anders an der neuen Schule von Nicole, Kerstin und Nathan. Allein der Name: Straßenschule. Sie richtet sich an „junge Menschen in besonderen Lebenslagen“, so drücken es die Sozialpädagogen von der Treberhilfe ein bisschen verschwurbelt aus. Anders gesagt: junge Menschen, deren bisherige Lebensläufe aus unterschiedlichsten Gründen nicht so geradlinig gewesen sind wie andere, und deren Lebensmittelpunkt oftmals eine Zeit lang die Straße gewesen ist.

Ehrenamtliche Lehrerinnen und Lehrer, die meisten studieren noch, bereiten dort zurzeit zwölf Schüler über 18 Jahre auf die Abschlussprüfung vor. Nächstes Jahr werden sie an einer Regelschule eine sogenannte Schulfremdenprüfung ablegen.

Zum Beispiel die 23-jährige Nicole. Wegen Mathe hatte die Dresdnerin damals das Abgangszeugnis der neunten Klasse nicht geschafft. An einer anderen Schule hatte sie den Abschluss nachgeholt, dann in Hoyerswerda eine Ausbildung zur Sozialassistentin angefangen. Hätte sie es durchgezogen, hätte sie mit dem Abschluss auch die Mittlere Reife bekommen. Doch diesmal funkte das Privatleben dazwischen. Nach der Trennung von dem Mann, mit dem sie verlobt gewesen war, wollte sie nur noch weg aus Hoyerswerda.

Sie zog zurück nach Dresden, kam zunächst bei ihrer Familie unter, später dann mal hier, mal da. „Irgendwo hat sich immer ein Schlafplatz gefunden.“ Sie machte ein paar handwerkliche Gelegenheitsjobs, „und immer wieder nichts“. Zuletzt ist sie ein knappes Jahr lang arbeitslos gewesen. Doch damit ist jetzt Schluss. Nicole geht wieder zur Schule. Sie will endlich ihren Realschulabschluss machen, wieder eine Ausbildung anfangen – und arbeiten.

Oder Kerstin, 29, die zunächst in Hoyerswerda aufwuchs. Als Elfjährige zog sie mit der Mutter nach Dresden um, ins Prohliser Sternenstädtchen. Die Schule ließ sie schleifen. Irgendwann holte das Jugendamt das Mädchen und steckte es in eine Wohngemeinschaft in der Nähe von Bautzen. In einem Projekt für Schulverweigerer machte sie schließlich einen qualifizierenden Hauptschulabschluss. „Das freie Lernen in dem Projekt lag mir besser als das an einer normalen Schule“, sagt Kerstin heute. Mit 17 fing sie eine Gärtnerlehre an, die sie aber wegen Allergien bald wieder abbrechen musste. „Danach bin ich ein bisschen auf der Straße rumoxidiert.“ Die falschen Leute getroffen? Nein, sagt Kerstin, die Leute auf der Straße sind nicht falsch, die sind cool. Sie wissen die kleinen Dinge des Lebens noch zu schätzen. „Die nehmen dich so, wie du bist, du musst dich nicht verstellen.“ Und wenn es einer von ihnen schaffe, sein Leben wieder in geregelte Bahnen zu steuern, freuten sie sich mit ihm.

Mit 23 bekam Kerstin ein Kind. Ihr Sohn ist inzwischen sechs, mit ihm und ihrem neuen Freund wohnt sie heute in der Inneren Neustadt. Bevor ihr Junge nächstes Jahr eingeschult wird, macht seine Mutter es ihm vor. Die Frau mit den wilden Dreadlocks grinst, ihre Augen werden schmal. „Jetzt sitze ich hier und will was lernen.“

Das sagt auch ihre Lehrerin Ronja Liffers. Die 24-Jährige studiert das Lehramt für die Berufsschule und engagiert sich ehrenamtlich in der Straßenschule. „Sonst habe ich es mit Leuten zu tun, die einen Beruf lernen wollen, aber keinen Bock auf Schule haben.“ In der Straßenschule hat sie nur drei Schüler – „aber die sind wahnsinnig motiviert“. Pro gehaltene Unterrichtsstunde bekommen Ronja und ihre Kollegen zehn Euro, die Vor- und Nachbereitungszeit wird nicht bezahlt.

Dafür lernen auch die Lehrer eine Menge. Wie viel es wert ist, dass ihre eigenen Eltern immer für sie da waren und dass es keine finanziellen Probleme gab. Dass sie es nicht persönlich nehmen dürfen, wenn ihre Schüler mal abgelenkt sind und eine Antihaltung einnehmen. Vor allem aber: Dass sie nicht nur zur Vermittlung von Schulstoff da sind, sondern auch dazu beitragen, ein neues Selbstbewusstsein aufzubauen. Oft hören sie: „Ich kann das nicht.“ Dann müssen sie gegensteuern.

Meist hapert es an Mathe. Anders bei Kerstin. „Mathe ist logisch“, sagt sie. Schon mit 14 hat sie die Finanzen gemacht für ihre Mutter, die schlecht mit Geld umgehen konnte. Deutsch hingegen ist ihr ein Rätsel, auch wenn sie viel liest, auch wenn die Rechtschreibung schon besser geworden ist. Wenn sie Hilfe braucht, kann sie sich an ihren Mitschüler Nathan wenden.

Der ist 25, kommt aus Kanada und ist seit drei Jahren in Deutschland. Auch er hatte eine schwierige Jugend und weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, auf der Straße zu leben. Und auch er will später im sozialen Bereich arbeiten, deshalb hat er bei der Treberhilfe ein Praktikum gemacht. Die Straßenschule ist die perfekte Möglichkeit für ihn, einen deutschen Schulabschluss zu erwerben – sein kanadischer wird in Deutschland nicht anerkannt. Beim Lernen kommt ihm jetzt zugute, dass er als Kind Wörterbücher und Lexika regelrecht verschlungen hat. Inzwischen spricht Nathan fließend Deutsch. Nicole und Kerstin sagen: „In Deutsch ist er besser als wir.“

Die neu eröffnete Straßenschule der Treberhilfe sucht noch zwei bis drei ehrenamtliche Lehrer für alle Fächer. Interessenten können sich bei Peggy Schramm melden unter 0351 8036581. www.treberhilfe-dresden.de