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Zwischen Siegesjubel und Stalingrad

Die SZ ist mit ihren Lesern auf Spurensuche zum Kriegsende 1945. Heute: Die Tagebücher eines jungen Soldaten aus Steinigtwolmsdorf sind ein beeindruckendes Zeugnis des Krieges.

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© Uwe Soeder

Miriam Schönbach

Die Tagebücher sind abgegriffen. Bei einem ist der grüne Einband an einer Stelle zerrissen. Alle Seiten sind dicht beschrieben. Mit einem spitzen Bleistift führt Günter Conzendorf seine Chroniken vom ersten Tagen des Russlandfeldzuges im Juli 1941 bis zu seiner Entlassung aus der Gefangenschaft im November 1945. Sie erzählen die Geschichte eines Soldaten, der auszog Hitlers Reich zu erobern und dabei alle Illusionen verlor. Sein Sohn Hagen bewahrt den Schatz seit dem Tod des Vaters.

„6. oder 7. August 1941. Was interessiert hier das Datum oder gar der Wochentag? Großangriff war erfolgreich. Viele Tote ... im Rundfunk ganz riesenhafte deutsche Erfolge. Schlacht um Kiew am schwersten …“

Günter Conzendorf ist 19, als Deutschland 1939 Polen überfällt. Der junge Mann aus Steinigtwolmsdorf arbeitet in einem Kolonialwarenladen. Gerade beginnt er erste, zärtliche Bande zu den Mädchen zu knüpfen. Da kommt der Einberufungsbefehl. Am 4. Oktober 1940 findet er sich in der Löbauer Kaserne ein.

„3. Dezember 1941. Wir marschieren auf Tula zu. Noch 40 Kilometer entfernt, es folgt bald der Angriff. Dann Moskau? Schnee … Wir sind bald sechs Monate im Kriege … Ob sie Leningrad aushungern können? Bei Moskau wird es ihnen wohl schwerlich gelingen!“

Die Kompanie befindet sich auf dem Vormarsch. Am 25. September verlässt Günter Conzendorf Kiew. In ausladender Schrift berichtet er von der Erschießung von 50 000 Juden: „Das Gesindel verdient es einfach nicht anders“. 27 Orte listet er auf, die die Deutschen überrollen. Voll Siegeseifer geht es nach Moskau. Conzendorf und seine Kompanie liegen 200 Kilometer vor der Stadt, als die Gegenoffensive startet. In der Nacht vom 7. zum 8. Dezember greifen Kosaken an. Zwei Tage später kommt der Befehl, die Front zu räumen.

„18. Dezember 1941. Auf unserem Rückzug brennen wir restlos sämtliche Ortschaften ab, die zwischen uns und dem Feind liegen. Aber wir können das nicht ändern, und außerdem verdienen sie’s leider auch nicht anders. ... Tatsache, dass die russischen Soldaten unsere Kameraden, die ihnen in die Hände fallen, sämtlich kaltmachen … Wir machen das wirklich nur mit Partisanen.“

Die Rote Armee hetzt Hitlers Truppe vor sich her. In den drei Regimentern, so schreibt Günter Conzendorf, gebe es sehr viele Kompanien mit nur noch 18 Mann. Erst Weihnachten bringt eine Feuerpause. Für die deutschen Frontsoldaten gibt es aus der Heimat Päckchen mit Selbstgebackenem und Büchsenmilch. Die müden Krieger denken an zu Hause und träumen von ihrer Ablösung. Silvester verbringt die Einheit in einem kleinen Dorf. Neben die Zahl 1942 im Tagebuch malt Günter Conzendorf eine donnernde Kanone und zwei Ringe im Herz. Der russische Winter setzt dem jungen Soldaten zu. Seine Zehen sind erfroren. Geschwächt bekommt er Erholungsurlaub. Mit dem Zug beginnt er eine Odyssee über Minsk in den Südosten Polens bis nach Wien, München und Pfullingen. Dort strandet er im Frühjahr 1942 im Lazarett. Zur Feier des Tages – der 20. April ist „Führergeburtstag“ – gibt es eine Flasche Kognak und 20 Zigaretten. Nach dem Urlaub in der Heimat ruft im November 1942 die Ostfront. Nächster Einsatzort: Stalingrad.

„2. Februar 1943. Mächtige Schneeverwehungen und dann die Scheiße mit dem Stoßtrupp und dem dauernden Alarm … Meyer Ludwig hat eine MG-Garbe durch den Kopf getötet. 23 Jahre, verheiratet, einen Jungen. Das Schicksal ist blind … wenn doch bald dieser verfluchte Krieg ein Ende hätte …“

Dieser Wunsch erfüllt sich nicht. In Stalingrad kesselt die Rote Armee mehr als 230 000 Soldaten ein. Das Tagebuch beschreibt die Aussichtslosigkeit der Lage. Doch Zweifel darf es nicht geben. Mehrfach fällt Günter Conzendorf durch das Hinterfragen von Befehlen auf. Am 8. März 1943 geht er in den Arrest. Er hat sich einmal zu oft mit seinem Gruppenführer angelegt. Danach landet er tagsüber an vorderster Linie im Erdloch. Nachts marschiert die Truppe rückwärts über kilometerlange Knüppeldämme im Sumpfgebiet. Am 22. April 1943 beginnt Günter Conzendorf sein grünes Tagebuch. Seine Mitschriften werden – wie Kontrollvermerke zeigen – regelmäßig überprüft. Roter Buntstift unterstreicht vermeintlich wehrzersetzende Passagen. Die Wochenschau berichtet immer noch von Siegen. Doch in Nordafrika steht schon eine halbe Million alliierte Soldaten. Mitte Mai sickert diese Nachricht zu den Soldaten im Osten durch. Die Russen greifen jetzt auch bei Tag an.

„29. Mai 1943. Wenn wir diesen Krieg verlieren, kommt auch nicht ein Soldat mehr lebend nach Hause! Es ist aber immer wieder das gleiche Bild: Daheim der einfache Arbeiter und draußen der einfache Soldat tragen die ganze Last des Krieges … Manchmal hab’ ich den Schwindel so satt.“

Wenige Tage später beschießen Granatwerfer Conzendorfs Stellung. Ein Splitter steckt im Tagebuch. Am 24. Juni 1943 muss er seine Mitschriften aufgeben. Ein Vorgesetzter fordert Schweigsamkeit. Erst im November greift er wieder zum Bleistift – mit kurzen Eintragungen. Am 12. März 1944 erhält er die Heiratserlaubnis. Die Hochzeit mit seiner Brunhilde ist am 26. März. Das Bild zeigt ein ernstes Paar. Ihr Sohn kommt am 3. Dezember 1944 zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt ist der junge Vater schon in russischer Gefangenschaft.

29. Juni 1944. Unser Rückzug geht los. Die acht Offiziere ließen die Mannschaft feige im Stich, versuchten allein durchzukommen und erschossen sich. Wir standen den ganzen Tag lang im Sumpf … und ergaben uns einer Übermacht von ca. 40 MP-Schützen … Am Abend gab es Brot, Zucker und etwas Speck. Das war mein 24. Geburtstag.

Die Gefangennahme bedeutet für Günter Conzendorf Arbeitslager. Er führt sein Tagebuch weiter, Knapp berichtet er von freundlichen, jüdischen Ärzten. „Ich habe meine Einstellung ändern müssen“, schreibt er. Am 11. November 1945 steigt der Soldat zerlumpt in Steinigtwolmsdorf aus dem Zug. Das grüne Tagebuch mit dem Granatsplitter endet am 29. April 1946. Da steckt der Heimkehrer schon in der Neulehrerausbildung.