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Was bleibt von den Heldinnen von Belarus?

1989 gelang in der DDR, was in der Diktatur Lukaschenkos immer aussichtsloser scheint: eine friedliche Revolution. Das hat viele Gründe - eine Bilanz.

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Maria Kolesnikova war eine Führerin der belarussischen Opposition. Vor wenigen Tagen hat in Minsk der Prozess gegen die
Musikerin begonnen, fast ein Jahr nach ihrer Festnahme.
Maria Kolesnikova war eine Führerin der belarussischen Opposition. Vor wenigen Tagen hat in Minsk der Prozess gegen die Musikerin begonnen, fast ein Jahr nach ihrer Festnahme. © BelTA/AP

Von Ulfrid Kleinert

Es waren nicht nur Frauen, die im Sommer und Herbst 2020 den „letzten Diktator Europas“ Alexander Lukaschenko herausforderten. Aber sie haben das Bild der Revolution geprägt. Ihre Männer waren im Gefängnis, politisch ausgeschaltet oder gehorsam. Der Präsident wollte am 9. August 2020 zum sechsten Mal wiedergewählt werden. Seine drei Gegenkandidaten ließ er anklagen, festnehmen, inhaftieren und von der Wahl fernhalten. Doch er unterschätzte die Frauen, die ihnen verbunden sind und eine gemeinsame Präsidentschaftskandidatin präsentierten. Weil klar war, dass Lukaschenko auch diese Stimmenauszählung massiv manipulieren würde, kontrollierten diesmal freie Bürger den Wahlausgang – wie in der DDR des Frühjahrs 1989.

Tatsächlich gelang ihnen der Beweis, dass das dann offiziell bekanntgegebene Wahlergebnis nicht stimmen konnte. Als Zigtausende Bürgerinnen und Bürger darauf Neuwahlen sowie einen „Dialog über eine friedliche Machtübergabe ohne Gewalt und Umsturz“ forderten, ließ Lukaschenko das Internet des Landes blockieren und rund 1.000 Demonstranten, überwiegend Männer, festnehmen. Ihre Frauen und Mütter belagern am nächsten Morgen Polizeistationen und Gefängnistore und verlangen die Freilassung der Gefangenen. Als die meisten von ihnen kurz danach entlassen werden, sind viele von Misshandlungen gezeichnet.

Ist „ein Volk in Angst“ die ganze Wahrheit?

Die Proteste nehmen zu, werden vielfältiger und größer. Aber noch stärker wächst die Entschlossenheit, Gewalt- und Machtausübung Lukaschenkos und seines Systems. Anders als in der DDR 1989 hat sich auf diese Weise in Belarus 2020/21 das in Jahrzehnten entwickelte und eingespielte Herrschaftsinstrumentarium durchgesetzt. Sollte also aller Protest vergeblich gewesen sein, unter der brutalen Herrschaft der von Jugend an zu folgsamen Truppen ausgebildeten Omon-Polizisten und Folterknechte, der gelenkten Gerichte und Funktionäre untergehen? Bleibt nach den Erfahrungen des monatelangen Ringens, der mutigen Solidarität, des kreativen Protests und nach der Erfahrung von Gemeinschaft als Ergebnis tatsächlich nur „ein Volk in Angst“? Ist das die ganze Wahrheit?

Dem widersprechen jetzt zwei Berichte von in Deutschland lebenden Belarussen. Sie waren im vergangenen Sommer zur Wahl und danach wochenlang in ihrer Heimat. Für sie hat Lukaschenko zwar offiziell alles wieder unter Kontrolle, aber die positiven Erfahrungen des Widerstands würden von den vielen mutigen Protestlern nicht vergessen. Der erste Bericht stammt von dem Regisseur Aliakzei Paluyan. Er hat im vergangenen August und September in Minsk einen Dokumentarfilm gedreht. Jeder Zuschauende wird mitten hineinversetzt in die Aktionen der Bürger von Minsk.

Den Deutschen „die Ekstase der Solidarität“ vermitteln

Zum Beispiel blickt man zusammen mit der Kamerafrau lange in die verunsicherten Augen eines hochgerüsteten jungen Milizionärs, dessen Schild gerade von einer der protestierenden Frauen mit einer Rose geschmückt wird. Der Film folgt den Wegen von drei Schauspielern des Minsker Belarus Free Theatr in den Tagen der Revolution. Sein Titel: „Courage“. Sie zeichnet nicht nur die widerständigen Menschen aus, sondern auch Entstehung und Gestaltung des Films selbst.

Den zweiten Bericht liefert das Buch „Die weißen Tage von Minsk“. Darin erzählt der in München und Berlin als Dirigent arbeitende Vitali Alekseenok von „unserem Traum von einem freien Belarus“. Er hat ihn mitgeträumt und möchte „die Ekstase der Solidarität“, die ihn dort wie ein großartiges Musikstück erfasst hat, auch uns deutschen Landsleuten mitteilen. Sein Buch ist eine Quelle von Kurzberichten über viele Formen der gewaltfreien Aktionen, die er vor Ort erlebt und mitgestaltet hat. Alle Aufständischen haben, so Alekseenok, im letzten Jahr die beglückende Erfahrung gemacht, dass die Suche nach Wahrheit und Freiheit und die Praxis der Solidarität untereinander wichtiger werden können als „Bequemlichkeit und Angst“.

Eine belarussische Tragik: Kein Gorbatschow hilft ihnen

Sie hätten Gewalt ausübende Menschen ohnmächtig gesehen da, wo sie von hassfreier Kreativität, von Spontaneität freier Bürger und von ihrer Verbundenheit untereinander überrascht wurden. Diese Erfahrung sitze tief und warte auf den Moment, wieder zum Zuge zu kommen unter besseren Bedingungen, als sie im letzten Jahr für Belarus bestanden. Das hörten am 19. Juli in Dresden auch die Besucher der Vorführung von Paluyans „Courage“ im Hellerauer Europäischen Zentrum der Künste, als der Filmemacher mit ihnen diskutierte. Wenn der richtige Augenblick gekommen sei und die Bedingungen günstiger sind, würden die Erfahrungen des letzten Sommers und Herbstes in Belarus Früchte tragen, so seine Hoffnung.

Warum aber gelang die Wende 1989 in Deutschland relativ gewaltfrei, während die Unterdrückung in Belarus 2020/21 eher schlimmer geworden zu sein scheint? Vier Gründe scheinen naheliegend: Zum einen hatte Belarus nicht das Glück, dass in Russland ein Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika regierte. Stattdessen handelt dort ein autokratischer Putin, der angesichts der im fernöstlichen Chabarowsk monatelang gegen seine Politik demonstrierenden Russen fürchtet, ein erfolgreicher Aufstand im benachbarten Belarus könne auch seine Kritiker ermutigen.

Die Europäische Union ist mitverantwortlich

Deshalb zieht Putin es vor, den auch von ihm ungeliebten Lukaschenko zu unterstützen. Zum anderen fehlt Belarus bisher eine eigenständige ökonomische Perspektive, sodass das Land bisher von Russlands Wirtschaftshilfe und der Haltung Putins abhängig geblieben ist. Drittens hat die Europäische Union Belarus nicht schnell und entschieden genug unterstützt. Erst verhinderte das kleine Zypern mit seinem Veto ein Handeln der EU überhaupt. Dann nahmen Sanktionsmaßnahmen gegen die Herrschenden in Belarus ausgerechnet Lukaschenko selbst aus, weil Finnland, Ungarn und Dänemark die Möglichkeit diplomatischer Gespräche mit ihm nicht verbauen wollten, zu denen Lukaschenko jedoch nie bereit war.

Für die jetzt greifenden Sanktionen rächt sich das Regime, indem es Menschenhandel mit irakischen Flüchtlingen über die belarussisch-litauische Grenze in die EU organisiert. Seitens der EU wurde bisher auch keine verbindliche Wirtschaftsperspektive für Belarus in Aussicht gestellt, weil EU-Kontakte zu Putin sonst gefährdet sein könnten. Schließlich war das Nobelpreiskomitee in Oslo schlecht beraten, als es den Friedensnobelpreis 2020 nicht an die mutigen Bürgerinnen und Bürger von Belarus verlieh.

Ein Volk im Kampf gegen den letzten Diktator Europas

Den Menschen in der DDR ging es 1989 anders. Sie wurden von West-Europa, auch von Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika wohlwollend politisch unterstützt, von Westdeutschland auch wirtschaftlich. Für sie bestand seinerzeit eher das Problem der Vereinnahmung und der einvernehmlichen Übernahme, deren negative Seiten von großen Teilen der Bevölkerung erst später erkannt wurden. Für Belarus aber fehlt bisher eine überzeugende Perspektive. Das Land will kein Anhängsel Russlands werden oder bleiben, ist aber bisher auf den Nachbarn angewiesen. Es will auch nicht vom Westen vereinnahmt werden, braucht aber dessen Unterstützung – wirtschaftlich und politisch. Schon um den „letzten Diktator Europas“ (dem Putin inzwischen sehr nahekommt) loszuwerden.

Am Ende seines Buches bittet Vitali Alekseenok auch die Deutschen, sich – nicht nur mit Blick auf Belarus – klarzumachen, dass es mit „zum Wertvollsten und Schützenswertesten“ gehört, was wir haben: „die Wahrheit und die Freiheit.“ Weil: „Was wir ... aufhören zu schätzen, hören wir auch auf zu schützen. Und irgendwann, unmerklich und unerwartet, könnte es ganz verloren gehen.“

Buchtipps: Vitali Alekseenok, Die weißen Tage von Minsk – unser Traum von einem freien Belarus, S. Fischer Verlag, 189 Seiten, 18 Euro / Alice Bota: Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit. Berlin-Verlag, 240 Seiten, 18 Euro

Filmtipp: Aliaksei Paluyan, „Courage“ (zu sehen in diversen deutschen Programmkinos)