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Verfassungsgericht: Merkel hat die Rechte der AfD verletzt

Thomas Kemmerich wird 2020 mit AfD-Stimmen Ministerpräsident in Thüringen. Merkel kritisierte die Wahl. Ein Verstoß gegen die Chancengleichheit urteilt nun das Verfassungsgericht.

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Als schlechten Tag für die Demokratie bezeichnete Merkel 2020 die Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen.
Als schlechten Tag für die Demokratie bezeichnete Merkel 2020 die Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen. © Fabian Sommer/dpa

Karlsruhe. Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin mit ihren Äußerungen zur Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen Anfang 2020 Rechte der AfD verletzt. Das stellte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe fest. Merkel habe gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verstoßen, entschieden die Richterinnen und Richter mit einem am Mittwoch verkündetem Urteil. (Az. 2 BvE 4/20 u.a.)

"Sie hat gegen die Antragstellerin (AfD) Partei ergriffen, indem sie sie aus dem Kreis der im demokratischen Spektrum koalitions- und kooperationsfähigen Parteien ausgegrenzt hat", urteilten die Karlsruher Richterinnen und Richter. Dies sei nicht "durch den Auftrag des Bundeskanzlers zur Wahrung der Stabilität der Bundesregierung sowie des Ansehens der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft gerechtfertigt" gewesen.

Die Entscheidung war im Senat umstritten. Nur fünf der acht Richterinnen und Richter stimmten dafür. Die Richterin Astrid Wallrabenstein führte in einem sogenannten Sondervotum aus, dass die Kanzlerin nicht gegen die Verfassung verstoßen habe. "Bürgerinnen und Bürger erwarten von den Regierungsmitgliedern nur begrenzt
Neutralität", schrieb sie. Diese würden immer in ihrer Doppelrolle wahrgenommen, Amt und Parteizugehörigkeit seien verschränkt.

Merkel: Thüringen-Wahl "ein schlechter Tag für die Demokratie"

Am 5. Februar 2020 hatte sich der FDP-Politiker Thomas Kemmerich im Erfurter Landtag völlig überraschend mit Hilfe von CDU und AfD zum Regierungschef wählen lassen. Es war das erste Mal, dass sich ein Ministerpräsident von der AfD ins Amt verhelfen ließ.

Kanzlerin Merkel (CDU), die gerade auf Reisen war, hatte sich einen Tag nach der Wahl zu Wort gemeldet und ihrer Pressekonferenz mit dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa eine "Vorbemerkung" "aus innenpolitischen Gründen" vorausgeschickt. Das Ergebnis müsse "rückgängig gemacht werden", sagte sie, zumindest die CDU dürfe sich nicht an dieser Regierung beteiligen. Und: "Es war ein schlechter Tag für die Demokratie." Eine Mitschrift der Pressekonferenz stand zwischenzeitlich auf bundeskanzlerin.de und bundesregierung.de.

Kemmerich war nach drei Tagen zurückgetreten, die Amtsgeschäfte hatte er ohne Regierung noch bis März geführt. Ministerpräsident wurde dann doch wieder Bodo Ramelow (Linke), der im ersten Anlauf in den ersten beiden Wahlgängen nicht genug Stimmen bekommen hatte.

Merkel respektiert Entscheidung des Gerichts

In der Karlsruher Verhandlung im Juli 2021 hatte Merkels Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) die Äußerungen damit verteidigt, dass die mitreisenden Journalisten und vor allem der Koalitionspartner eine Positionierung gewollt hätten. Es sei auch um das internationale Ansehen der Bundesrepublik Deutschland gegangen.

Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ihren Äußerungen zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen ihren Respekt vor dem höchsten deutschen Gericht geäußert. "Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel respektiert selbstverständlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts", teilte eine Sprecherin Merkels am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Berlin auf Anfrage mit. Inhaltlich äußerte sich Merkel nicht.

Auch Thomas Kemmerich selbst wolle das Urteil der Richter nicht bewerten. "Ich habe großen Respekt vor dem Gericht", hieß es in einer Mitteilung Kemmerichs vom Mittwoch. "Für mich gilt: Ich bin ein Mensch, der nach vorn blickt."

Regierungsmitglieder müssen "staatliche Neutralität" wahren

Die AfD hatte vor dem Bundesverfassungsgericht auch schon erfolgreich gegen den damaligen Innenminister Horst Seehofer (CSU) geklagt, weil ein Interview mit AfD-kritischen Passagen auf seiner Ministeriumsseite stand. Und Johanna Wanka (CDU) wurde in ihrer Zeit als Bildungsministerin dafür gerügt, dass sie in einer Ministeriumsmitteilung die "Rote Karte" für die AfD gefordert hatte. Nach diesen Urteilen dürfen Politiker zwar öffentlich Kritik an der AfD üben. Sie müssen aber das Gebot staatlicher Neutralität wahren, wenn sie sich in ihrer Rolle als Regierungsmitglied äußern. Nehmen sie am politischen Meinungskampf teil, dürfen sie nicht ihre Amtsautorität ausnutzen und auch keine Ressourcen ihres Ministeriums in Anspruch nehmen. "Für das Amt des Bundeskanzlers gilt dies grundsätzlich in gleicher Weise", sagte Vizegerichtspräsidentin Doris König bei der Verkündung.

Nach dem Urteil ihres Zweiten Senats ist es nicht zulässig, "dass die Bundesregierung oder ihre Mitglieder die Möglichkeit der Öffentlichkeitsarbeit nutzen, um Regierungsparteien zu unterstützen oder Oppositionsparteien zu bekämpfen". Das ändere aber nichts daran, dass die Bundesregierung "sogar verpflichtet ist, für die Grundsätze und Werte der Verfassung einzutreten, und sich im Rahmen ihrer Pflicht zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung auch mit verfassungsfeindlichen Parteien zu befassen hat".

König sagte, Merkel habe sich damals "im ausschließlich amtsbezogenen Rahmen" geäußert. Im Urteil steht, es wäre ihr unbenommen gewesen, mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie nicht als Kanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson sprechen werde. "Von dieser Möglichkeit hat sie keinen Gebrauch gemacht." Weitergehende Auswirkungen für Merkel hat die Entscheidung nicht. Nach sogenannten Organklagen gegen oberste Bundesorgane prüfen die Verfassungsrichter ausschließlich, ob tatsächlich Rechte verletzt wurden oder nicht, und stellen dies entsprechend fest.

AfD feiert Urteil als "guten Tag für die Demokratie"

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb auf Twitter, der Ausgang sei "ein historisches Eigentor". "Denn das widerlegt die AfD in ihrem Grundmythos, der auf dem Schüren von Zweifeln an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland aufbaut."

AfD-Chef Tino Chrupalla freut sich über den Erfolg seiner Partei vor dem Bundesverfassungsgericht. "Es ist ein guter Tag für die Demokratie", sagte er am Mittwoch nach der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Die Äußerungen der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen 2020 hätten nicht nur die Rechte der AfD, sondern auch das Grundgesetz eklatant verletzt.

Chrupalla sagte, die Äußerungen hätten "eher etwas mit diktatorischen Meinungsäußerungen im Ausland zu tun". Unter normalen Umständen wäre seiner Ansicht nach ein Rücktritt notwendig gewesen - aber Merkel sei ja nicht mehr im Amt. "Das Bundesverfassungsgericht hat sich wahrscheinlich deswegen auch so viel Zeit gelassen. Nichtsdestotrotz werden wir als AfD, als Opposition, als Korrektiv weiterhin für die Grundrechte kämpfen und auch für die Einhaltung des Grundgesetzes."

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft die AfD als Verdachtsfall im Bereich Rechtsextremismus ein. Dagegen wehrt sich die Partei in einem noch laufenden Verfahren vor den Verwaltungsgerichten. (dpa)