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Warum wir uns mehr streiten müssen

Während die Angriffe auf Wahlkämpfer zunehmen, wird in der Dresdner Frauenkirche über den Zustand der Streitkultur und der Demokratie debattiert.

Von Sophie Handl
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„Selbst die schlechteste Demokratie muss immer noch davon ausgehen, dass die Würde des Menschen unantastbar bleibt“, stellte der Publizist Michel Friedman (hier in einer Talkshow) in der Frauenkirche klar.
„Selbst die schlechteste Demokratie muss immer noch davon ausgehen, dass die Würde des Menschen unantastbar bleibt“, stellte der Publizist Michel Friedman (hier in einer Talkshow) in der Frauenkirche klar. © Breuel-Bild

Als die Stiftung Frauenkirche ihre Podiumsdiskussion „Europa hat die Wahl. Zukunft: Demokratie“ plante, konnte auch sie noch nicht wissen, was sich unmittelbar im Vorfeld des Dienstagabends dieser Woche ereignen würde: Angriffe auf Politikerinnen und Politiker sowie Unterstützende im Wahlkampf haben sich gehäuft, nahezu täglich kommt es zu Angriffen, Beleidigungen, Körperverletzung, gerade in Sachsen. Die Streitkultur ist eskaliert.

Das verlieh der Aussage Michel Friedmans in der Frauenkirche einen doppelten Boden: „In der Demokratie geht es darum, dass Menschen versuchen, mit schlagenden Argumenten Überzeugungsarbeit zu machen“, so der Publizist, der „schlagend“ gleichwohl nicht wörtlich meinte. Sachsens stellvertretender Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) ging gleich an die Wurzel des Problems: „Es braucht wieder eine Kultur des Widerspruchs im Privaten.“

Was ist mit der Jugend passiert?

Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff und Friedman waren sich einig: Zu viele Menschen überlassen die Meinungsverschiedenheiten als strukturelles Problem der Politik, obwohl Diskussionen im Privaten wichtig seien. Trotzdem trage die Politik wegen ihrer Vorbildfunktion für die Öffentlichkeit eine große Verantwortung: „Wenn sich Vertreter der Parteien nicht mehr als Gegner, sondern als Feinde sehen, haben wir ein massives Problem“, so Deitelhoff.

Sie betrachte vor allem den 2017 auch in den Bundestag eingezogenen aggressiveren Ton der Debatten inklusive Beleidigungen in den Parlamenten kritisch. Folgerichtig ging es in der Frauenkirche auch um den Umgang mit der AfD und deren Wählern. Noam Petri, Studierender und Vizevorsitzender der jüdischen Studierendenunion, plädierte dafür, glaubwürdige Politik zu machen, statt die Wähler zu belehren und an sie zu appellieren.

„Solche Taten müssen effektiv verfolgt werden“

Das sieht Michel Friedman jedoch anders: „Wir brauchen konfrontativen und harten Streit, solange er emotional nicht zu Beleidigungen führt oder zum Absprechen der Würde des Menschen.“ Dabei sei er nicht bereit, Argumente von Menschen, die beispielsweise antisemitische Verschwörungstheorien verbreiten, kommentarlos stehen zu lassen oder hinzunehmen. „Das ist Demokratie. Wir reden, wir streiten, wir sind uns nicht einig“, sagt er.

Auch der bundesweit für Entsetzen sorgende Dresdner Angriff auf den krankenhausreif geprügelten Europawahl-Spitzenkandidaten der SPD, Matthias Ecke, kam zur Sprache – die mutmaßlichen Täter sind 17 und 18 Jahre alt. Zeit-Journalistin Anne Hähnig fand es auffällig, dass die Verdächtigen offenbar keine Angst hatten, erwischt und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Politologin Deitelhoff sah darin eine Banalisierung von politischer Gewalt und zieht den Staat zur Verantwortung: „Solche Taten müssen effektiv verfolgt werden.“

Bei extremistischer Gewalt auf dem rechten Auge blind

Dass diese Gerichtsverfahren oft nicht zügig genug passieren, sieht auch Friedmann so. Jahrzehntelang sei die Politik bei extremistischer Gewalt auf dem rechten Auge blind gewesen: „Ich bin beeindruckt, dass der Rechtsstaat bei den Bewegungen, wo sich junge Menschen angeklebt haben, innerhalb von drei Monaten Verurteilungen hinbekommen hat.“ Das sei bei Taten mit extremistischem Motiv selten passiert.

Unstrittig war, dass gerade die Jugend auch über Soziale Medien radikalisiert wird. „Wir sollten ernsthaft darüber nachdenken, Tiktok zu verbieten“, sagte Noam Petri von der jüdischen Studierendenunion.

Am gleichen Tag wird Senatorin Franziska Giffey verletzt

Autorin und Journalistin Anne Rabe benannte es als Problem, dass medial regelmäßig verbreitet würde, man müsse versuchen, die AfD in das demokratische System zu integrieren. Damit werde suggeriert, dass nicht nur die AfD, sondern auch alle ihre Wähler gar nicht rechtsextrem seien. „Die schlechteste Demokratie ist immer noch besser als die beste Diktatur“, erklärte Michel Friedman zum Schluss. „Denn selbst die schlechteste Demokratie muss immer noch davon ausgehen, dass die Würde des Menschen unantastbar bleibt.“

Kurz nach der Veranstaltung wurde bekannt, dass am selben Nachmittag auch die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) in einer Bibliothek angegriffen und verletzt und in Dresden eine weitere Grünen-Politikerin bepöbelt und bespuckt worden war.