Herr Winkler, Sie waren langjähriger Auslandskorrespondent der NZZ und sind ein profunder Kenner der USA. Im November dieses Jahrs wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Sie bezeichnen 2024 als Schicksalsjahr für die USA. Warum?

Nach seiner Niederlage in der Wahl von 2020 hat Donald Trump ein Tabu gebrochen. Er hat als erster in der fast 250 Jahre langen Geschichte der amerikanischen Demokratie versucht, ein Wahlresultat mit Gewalt zu kippen. Der Sturm auf das Capitol in Washington war nur der Endpunkt dieses Versuchs, in den auch unzählige Trump-Anhänger in den Bundesstaaten Arizona, Georgia, Michigan und natürlich in der Hauptstadt verwickelt waren. Seine Partei hat danach verhindert, dass er politisch mit einem Impeachment für diesen Tabubruch bestraft wurde, und die Chancen, dass die ganze Sache vor der Wahl im November juristisch aufgearbeitet wird, schwindet rasant.

Aller Voraussicht nach wird Trump wieder der Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei sein, und er verbreitet schon vorsorglich wieder Legenden, wonach eine Niederlage nur das Resultat eines Wahlbetrugs sein könnte. Ich befürchte, dass bei einem knappen Resultat im Herbst sehr schwierige Zeiten auf Amerika zukommen. Die Stimmung ist gereizt, im Land sind mehr Waffen in Umlauf als je zuvor in Friedenszeiten, und die Bereitschaft, Gewalt für politische Ziele einzusetzen, ist Umfragen zufolge gewachsen. Wenn die USA von Chaos oder gar Gewalt gelähmt sein sollten, kann uns das auch uns diesseits des Atlantiks nicht kaltlassen. Die Gegner der freiheitlich-demokratischen Republik werden die Gunst der Stunde zu nutzen versuchen.