Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Merken

Rätsel über Rätsel

Silvio Baier hat sich für die 40. Schach-Löse-WM in Belgrad qualifiziert. Für bitte was?

Teilen
Folgen
NEU!
© ronaldbonss.com

Von Nina Gottlöber

Alles schwarz oder weiß sehen – im Alltag äußerst verheerend. Beim Schach ist es allerdings ein Muss. Die gegenüberliegende Farbe soll mit Kalkül geschlagen werden.

Doch der Klassiker unter den Brettspielen, den bereits Kinder beherrschen, verbirgt weit mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Etwas Strategisches, Ästhetisches, Rätselhaftes. Die Rede ist vom sogenannten Problemschach. Diese sehr alte, dennoch heutzutage etwas in Vergessenheit geratene Schachversion besteht aus zwei Hauptdisziplinen: dem Lösen und dem Komponieren bestimmter Schachaufgaben.

Im Lösen dieser „Schachprobleme“, auch Rätseln genannt, wird praktisch gegen sich selbst gespielt. Wobei „spielen“ hier das falsche Verb ist. Wie der Name es schon vorgibt, wird gerätselt und, im besten Fall, gelöst. Dabei gilt es bestimmte Vorgaben einzuhalten, wie die Zeitangabe oder die Anzahl der Züge.

Ein Komponist versucht beim Bauen einer Schachaufgabe mit den Mitteln des Schachspiels etwas Schönes und Unerwartetes darzustellen. Er ist also in erster Linie ein Künstler.

Die sportliche Herausforderung besteht bei Turnieren vor allem im Zeitdruck: die Herzfrequenz steigt, die Beine wanken hektisch hin und her, das Gehirn läuft auf Hochtouren. Tatsächlich: Auch nach Problemschach-Wettbewerben trifft man auf völlig entkräftete und verschwitzte Rätseler. Beim Lösen der Aufgaben bedienen sich routinierte „Löser“ einem Erfahrungsschatz an Manövern und Motiven. Das „Mausefalle-Thema“, die „Remisschaukel“ oder der „Dresdner“ sind nur drei Beispiele der weit über 1 000 kreativen Begriffe, die Problemschachspieler beherrschen beziehungsweise kennen sollten.

„Man kennt natürlich nicht alle, das ist nicht möglich und auch nicht notwendig“, versichert Silvio Baier aus Dresden. Der 37-jährige Reaktorsicherheitsforscher spielt seit 1988 Schach, seit 1998 löst und komponiert er selbst Schachprobleme. Die klassische Version empfindet er heute „mehr als Arbeit“, Problemschach hingegen als Genuss. „Schachaufgaben zu komponieren ist in erster Linie eine Form von abstrakter, nicht einfacher Kunst. Man erfreut sich daran wie an einem schönen Gemälde oder an guter Musik.“

Für den ausgebildeten Physiker fing alles mit den Schachaufgaben in der Wochenpost an. Heute löst er Rätsel aus aller Welt. Und auch eigene Kompositionen verschickt er an internationale Schachzeitschriften wie Die Schwalbe (Deutschland) oder StrateGems (USA). „Ich beteilige mich somit an der Verbreitung von Problemschach in der Welt“, betont der zweifache Familienvater.

Und das ist auch wichtig. Denn selbst wenn Problemschach in Osteuropa (Polen, Serbien, Slowakei) derzeit sehr präsent ist und gefördert wird, so bemerkt man in Deutschland ein massives Nachwuchsproblem. Hinzu kommt, dass Tageszeitungen, eigentlicher und traditioneller Hauptvermittler von Schachproblemen, immer weniger Schachseiten veröffentlichen. „Es ist ein Teufelskreis“, bedauert Silvio Baier. Vor allem seine momentane Hauptdisziplin, das Lösen, ist dadurch gefährdet.

Nachwuchs zu fördern erscheint Baier für das Überleben seines Lieblingshobbys daher von großer Notwendigkeit. „Meine Kinder spielen bereits Schach, und ich werde versuchen, sie auch an Problemschach heranzuführen. Damit hat man noch Chancen, an die Weltspitze zu gelangen“, argumentiert der amtierende Vizeweltmeister im Komponieren.

2016 wurde er Dritter bei den deutschen Meisterschaften im Lösen von Schachproblemen und qualifizierte sich somit für die diesjährige 40. Weltmeisterschaft in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Eine freudige Premiere für den Hobbyschachspieler: „Das Erlebnis muss man auch mal haben.“ Zur Vorbereitung verwendet er Aufgaben der letzten Weltmeisterschaften und vom aktuellen Weltcup. Spezielles Training zieht er allerdings nicht in Betracht: „Ich bereite mich nicht ausführlich auf die WM vor. Es ist mir zwar wichtig, bleibt allerdings ein Hobby.“

Für die WM in Serbien setzt sich der gebürtige Dresdner nicht unter Leistungsdruck. 50% der Punkte, also die Hälfte der Aufgaben richtig zu lösen, erscheinen ihm ein realistisches Vorhaben zu sein. Der WM-Titel, auf den ab 90 Prozent der Punkte gehofft werden darf, grenze für Baier allerdings an eine Utopie. Doch da die Schach-Löse-WM in den 59. Problemschach-Weltkongress in Belgrad eingebettet ist, dürfte es für Silvio Baier auf jeden Fall eine eindrucksvolle Woche unter dem schwarz-weißen Matt-Motto werden.