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Als die Sachsen Napoleon im Stich ließen

Der Schriftsteller und SZ-Autor Wolfgang David schreibt einen famosen Roman über einen fast vergessenen Dresdner General zur Zeit der Freiheitskriege.

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Eine sächsische Kavallerie-Einheit geht während der Leipziger Völkerschlacht zum Angriff über.
Eine sächsische Kavallerie-Einheit geht während der Leipziger Völkerschlacht zum Angriff über. © Universal Images Group Editorial

Von Christian Ruf

Am 16. Dezember 1812 ließ Kaiser Napoleon Bonaparte im 29. Bulletin der Grande Armée seine Untertanen und Verbündeten wissen: „Die Gesundheit Seiner Majestät war nie besser.“ Doch hatte er sich am Abend zuvor in aller Stille von seinen Generälen verabschiedet, um über Dresden nach Paris zu fahren. Genauer: zu fliehen. Anders war es um die Gesundheit jener Männer bestellt, die mit ihm ins Feld hatten ziehen müssen. Mit 600.000 Soldaten war die Grande Armée im Sommer nach Osten aufgebrochen, gut 500.000 waren gefallen, erfroren, in Lazaretten krepiert oder von Kosaken verschleppt worden. Zu den wenigen Überlebenden zählte Johann Adolf Thielmann, der als Kommandeur des sächsischen Schweren Kavallerie-Brigade den ganzen Feldzug mitgemacht und sich dabei ausgezeichnet hatte.

Dieser heute weitgehend vergessene Soldat steht im Zentrum des neuen Romans „Im Aufwind der Macht“ vom Dresdner Autor Wolfgang David. Er zeichnet eine Karriere nach, die durchaus Brüche aufweist. In der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt kämpfte Thielmann 1806 mit Sachsens Heer noch an Seite Preußens gegen Frankreich. Er begeistert sich aber alsbald für die „neue Weltordnung“, in der sein Land als Verbündeter des „genialen Mannes“ Napoleon einen „herausragenden Platz“ beanspruchen dürfe, wie David Thielmann gegenüber dem Maler Pakosz sagen lässt, der mit ihm gen Russland zieht.

Die Soldaten bauen sich einen Windschutz aus Toten

Es gibt einen Haufen Augenzeugenberichte, Briefe und Tagebuchnotizen aus dem Russland-Feldzug Napoleons. So groß die Verluste waren; wer das große Sterben zwischen Moskau und Wilna überlebt hatte, hinterließ begierig aufgenommene Erinnerungen an die Katastrophe. Ausnahmslos alle zeichnen das Bild einer Tragödie, die jede Vorstellungskraft sprengt. Nun hat Wolfgang David zwar einen Roman verfasst, aber mal abgesehen davon, dass die historischen Fakten stimmen: Sein Buch überzeugt nicht zuletzt dadurch, dass er für das Grauen von 1812 ebenso wie für die Schlacht von Großgörschen respektive Lützen Bilder findet, die sich ins Gedächtnis graben.

Etwa wenn er schreibt, dass sich Soldaten einen Windschutz aus gefrorenen Leichen errichten. Hier und da erfreut die Darstellung auch durch galligen Witz, wenn der sächsische Oberleutnant Minckwitz an einer Stelle über Napoleons General Murat einen Untergebenen wissen lässt, dass dieser im Bataschowschen Haus residiere und es sich dabei vermutlich um einen kleinen Palast handeln dürfte, gelte Murat doch „nicht als geschworener Feind von Luxus und Wohllebe“.

Warum Franzosenblut opfern, wenn wir Verbündete haben?

Natürlich ist vieles, was der 1948 geborene Wolfgang David schildert, reine Fiktion. So ist nur rudimentär verbürgt, wie die Gespräche im Generalstab Napoleons wirklich abliefen. Jedoch wirkt es nicht aus der Luft gegriffen, dass Napoleon sich den Pyrrhussieg von Borodino und die Einnahme Moskaus schönredet – und sich unter seinen willfährigen Generälen mit Armand de Caulaincourt nur einer findet, der Tacheles redet. Und kritisch fragt, ob die Russen Moskau den Franzosen womöglich nicht abgetreten, sondern lediglich damit belehnt haben. Auch die Sachsen müssen die Hybris Napoleons ausbaden. Ein Satz den David General Davout in den Mund legt, offenbart, dass man die Soldaten anderer ohne viel Federlesens verschliss. „Warum französisches Blut opfern, da wir Verbündete haben, die uns das ihre aufdrängen?“

Thielmanns Glauben an Napoleon ist bald nachhaltig erschüttert. In einem Brief an seinen Freund Generalmajor Carl Ludwig Sahrer von Sahr bekennt er am Ende: „Die Leichtfertigkeit, mit der dieser Feldzug vorbereitet, und die Ignoranz, mit der er, als er längst gescheitert war, fortgesetzt wurde, lassen mit daran zweifeln, daß der, den ist einst anbetete, tatsächlich zur Herrschaft über die Welt berufen ist.“

Wenn die "Freiheit" das Leben des Sohnes kostet

Wieder in der Heimat, wird der von seinem Idol enttäuschte General mit dem Wiederaufbau der sächsischen Armee betraut. Diese Machtfülle macht ihn sowohl für Frankreich wie die russisch-preußische Allianz interessant. Als Napoleon mit einer neuen Armee anmarschiert, wird eine Entscheidung unausweichlich, ringt Thielmann zwischen allen Stühlen schwer. Der ewig zaudernde Sachsenkönig Friedrich August I. ist erst recht keine Hilfe. Ähnlich zerrissen wie Thielmann ist der noch heute an der Elbe bekannte Dresdner Oberappellationsgerichtsrat Christian Gottfried Körner.

Er notiert seine zwiespältigen Gefühle, nachdem sein dichtender Sohn Theodor Körner sich 1813 in Breslau dem Lützowschen Freikorps anschloss: „Der Mann, der den Sieg der preußischen Waffen ersehnte, ist nur noch ein Schatten seiner selbst, seitdem eben jener Sieg das Blut des Sohnes fordern könnte...“ In der Tat, der Sohn ist einer von vielen Toten, die die Freiheitskriege kosten werden.

Stecht auf jeden Liegenden ein!

Napoleon wird bis heute in Frankreich zutiefst verehrt, nur wenige haben die Chuzpe, anderer Meinung zu sein, etwa der 1992 verstorbene französische Historiker Henri Guillemin, der Napoleon als skrupellosen, ehrgeizigen, blutrünstigen Tribun schildert, der aus persönlicher Machtgier handelte, „verantwortlich für eineinhalb Millionen Tote und eine Katastrophe in Europa“. Ganz so weit geht Wolfgang David nicht. Er schildert – was äußerst angenehm ist – Menschen, nicht Karikaturen. Es gibt insofern keine brüllenden Kommisköppe, vielmehr Soldaten, die natürlich todesängstlich sind, wenn es ernst wird, aber es auch verinnerlicht und akzeptiert haben, dass der Tod zum Beruf gehört. Leiden wird in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, es bedarf also keines pazifistischen Tons, um die Botschaft an Frau und Mann zu bringen.

Dass Wolfgang David die Schlachten von Borodino und an der Beresina in epischer Breite schildert, mag womöglich nicht jeder Leser goutieren. Erhellend sind sie in jedem Fall: So gibt Thielmann zum Auftakt der Schlacht von Borodino einem Oberst den Hinweis: Seien Sie auf der Hut! Sie (gemeint sind russische Infanteristen) stellen sich tot, lassen sich überreiten und schießen erst dann. Schärfen Sie den Leuten ein, dass sie auf jeden Liegenden einzustechen haben, er mag so tot aussehen wie es beliebt.“ Deutlicher kann man ihn kaum zeichnen, den Schrecken des Krieges.

Wolfgang David: Im Aufwind der Macht. Salon Literaturverlag, 558 Seiten, 23,50 Euro

Am 11. Mai ab 19 Uhr stellt das Erich-Kästner-Haus eine Buchlesung mit Wolfgang David auf auf Youtube online. kaestnerhaus-literatur.de