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Als vor 100 Jahren die Reichswehr gegen das "Rote Sachsen" marschierte

Inflation, Elend, Hitler-Putsch: 1923 rutscht auch Sachsen in die Krise. Berlin befürchtet einen kommunistischen Umsturz an der Elbe – und stürzt die Regierung in Dresden.

Von Oliver Reinhard
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Mit Panzer, Kavallerie und Musik marschiert am 20. Oktober 1923 die Reichswehr in Dresden ein. Neun Tage später jagt sie Sachsens SPD-Ministerpräsident Erich Zeigner aus dem Amt.
Mit Panzer, Kavallerie und Musik marschiert am 20. Oktober 1923 die Reichswehr in Dresden ein. Neun Tage später jagt sie Sachsens SPD-Ministerpräsident Erich Zeigner aus dem Amt. © Archiv Arbeitskreis Sächsische

Was vor 100 Jahren an einem sonnigen Herbsttag in Dresden geschieht, trägt alle Anzeichen eines Militärputsches. Bereits eine knappe Woche zuvor sind Zehntausende Soldaten in die Stadt einmarschiert, das größte Aufgebot deutscher Truppen seit Ende des Weltkriegs, samt Panzerwagen, Kavallerie, Artillerie, Musikkapelle. Nun, am 29. Oktober 1923, umstellen mehrere Einheiten das Ständehaus an der Brühlschen Terrasse, Sitz des Landtages. Kurz darauf, gegen Viertel nach zwei, wird Ministerpräsident Erich Zeigner von Uniformierten abgeführt.

Drinnen die Abgeordneten jedoch, seit Tagen den Druck des Militärs gewöhnt, lassen sich nicht beeindrucken und versammeln sich zur Sitzung des Haushaltsausschusses. Wenig später ist auch das vorbei. Offiziere und Soldaten entern den Landtag, sperren die Eingänge, postieren Geschütze und Maschinengewehre vor dem Gebäude. Damit hat die Reichsführung in Berlin, hat die Weimarer Republik Sachsens Regierung samt Parlament endgültig abgesetzt. Der „rote Spuk“, wie die Koalition aus SPD und KPD oft genannt wird, ist vorüber.

In München bereitet Adolf Hitler seinen eigenen Putsch vor. Was in Sachsen geschieht, ist ermutigend für ihn und seine Pläne.
In München bereitet Adolf Hitler seinen eigenen Putsch vor. Was in Sachsen geschieht, ist ermutigend für ihn und seine Pläne. © Wikipedia Commons

Adolf Hitler beobachtet die Entwicklung in Sachsen genau

Zu den besonders erregten Beobachtern der Vorgänge gehört ein 34-jähriger Österreicher in München. Elf Tage später, am 9. November, wird er dort seinen eigenen Umsturzversuch starten und dem deutschen Krisenjahr 1923 einen spektakulären Höhepunkt verschaffen. Doch obwohl sie im Rückblick von Adolf Hitlers Putsch überschatten wird, ist die „Reichsexekution“ an der Elbe ein zentrales und für die Geschichte der Weimarer Republik folgenreiches Ereignis, über das noch 100 Jahre später debattiert wird.

Kam Berlin mit seinem Einschreiten einem von Moskau aus geplanten kommunistischen Umsturz zuvor, der in Sachsen den Brückenkopf schaffen sollte für eine deutsche Sowjetrepublik, für die „Diktatur des Proletariats“? Oder wollte Sachsens „linksrepublikanisches Projekt“, wie andere es verstehen, im Gegenteil die Demokratie stärken, Reformen vorantreiben und Deutschland endlich aus dem 19. Jahrhundert ins 20. überführen?

Reformen für eine Demokratisierung der Gesellschaft

Unbestritten ist, dass Sachsen schon länger einen etwas anderen Weg ging als die meisten Länder im Reich. Seit den ersten Landtagswahlen 1919 stellte die SPD den Ministerpräsidenten und regierte seither ununterbrochen mit, wenn auch nur am Anfang auf Basis einer breiten linken Mehrheit. Sie wollte innerhalb der Republik ein Gegenmodell zu den im Reich dominierenden konservativen Strömungen schaffen durch die Trennung von Kirche und Staat – wobei die katholische Zentrumspartei in Sachsen ohnehin marginal war – mit Bildungsreformen, einer Gemeindereform und der Umwandlung von Verwaltung und Beamtenschaft in wirklich demokratische Stützen der Verfassung.

„Es waren grundlegende Reformen im Sinne einer Demokratisierung der Gesellschaft“, urteilt der Historiker Karl Heinrich Pohl. Letzteres bedeutete die größte Herausforderung: Im ganzen Reich waren die alten Eliten der Monarchie in die Republik übernommen worden, mitsamt ihren unverändert nationalkonservativen bis reaktionären Überzeugungen. Der Demokratie brachten sie eher Skepsis entgegen oder lehnten sie ganz ab. Zentrum dieser Geisteshaltung: die Reichswehr.

Der kaiserliche Feldmarschall Paul von Hindenburg war nur ein Beispiel dafür, in welchem Maße die alten Eliten weiterhin die Weimarer Republik dominierten: 1925 wurde der Demokratiefeind Reichspräsident.
Der kaiserliche Feldmarschall Paul von Hindenburg war nur ein Beispiel dafür, in welchem Maße die alten Eliten weiterhin die Weimarer Republik dominierten: 1925 wurde der Demokratiefeind Reichspräsident. © Foto: wikimedia

Franzosen und Belgier marschieren ins Ruhrgebiet ein

In eben diese Richtung, und damit weg vom politischen Regierungsdenken an der Elbe, dreht der Wind im November 1922, als der sozialdemokratischen Reichspräsident Friedrich Ebert den konservativen Wilhelm Cuno zum Kanzler macht, ein Musterexemplar der alten kaiserlichen Eliten. Vor allem Unternehmern und Industriellen zugeneigt, versucht sein Kabinett, die sozialen Reformen von 1919 zurückzuschrauben – während Sachsen sie weiter ausbauen will.

Als zwei Monate später die erste schwere Krise Deutschland heimsucht, beginnt die schrittweise Eskalation des ohnehin schon angespannten Verhältnisses zwischen Berlin und Freistaat. Der Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet am 11. Januar 1923 ist für das Deutsche Reich ein unerhörter Schlag und wird von der Bevölkerung kollektiv als Gipfel der Demütigung empfunden. Innerhalb weniger Tage besetzt das Militär das Herz der Schwerindustrie: Gelsenkirchen, Bochum, Recklinghausen, Dortmund.

Versailler Vertrag: Deutschland trägt Alleinschuld am Krieg

Frankreichs Ministerpräsident Raymond Poincaré hat diesen Schritt bereits mehrfach angekündigt, weil die Deutschen mit den Reparationszahlungen unter anderem in Form von Holz und Kohle für die im Weltkrieg angerichteten Verheerungen im Rückstand sind. Tatsächlich brauchen Franzosen und Belgier diese Lieferungen dringend, deren Bergbauindustrie und Städte sind zwischen 1914 und 1918 nachhaltig zerstört worden.

Knapp zwei Jahre zuvor haben die Alliierten Kriegssieger ihre finale Forderung vorgelegt: 132 Milliarden Goldmark – doppelt so viel, wie die Weimarer Republik in einem Jahr insgesamt erwirtschaften kann. Aber sie ist zur Zahlung verpflichtet laut Versailler Vertrag, der Deutschland die Alleinschuld am Krieg zuweist.

Im Januar 1923 besetzen französische Truppen das Ruhrgebiet. Der passive Widerstand ruiniert die bereits schwer kriselnde Republik vollends.
Im Januar 1923 besetzen französische Truppen das Ruhrgebiet. Der passive Widerstand ruiniert die bereits schwer kriselnde Republik vollends. © Archiv/Imago

Die Schuldenkatastrophe begann im Kaiserreich

Die Regierung Cuno reagiert entschlossen. Sie ruft die Bevölkerung im Ruhrgebiet zu passivem Widerstand auf. Das trifft auf offene Ohren. Die Arbeiter streiken, Zechen verwaisen, Fördertürme stehen still. Eine patriotische Welle erfasst das Land. Es kommt zu Sabotageakten, zum „Ruhrkampf“, zu Toten. Und zur endgültigen finanziellen Katastrophe, zur Hyperventilation der Hyperinflation, weil die Löhne für die Streikenden weitergezahlt werden.

Schon lange vor dem französischen Einmarsch hat die Geldentwertung bedrohliche Züge angenommen, ist Deutschland massiv verschuldet. Ein Resultat der Politik im Kaiserreich, das seinen Krieg durch Kredite finanzierte und immer mehr Geld druckte; Ende 1918 sind bereits fünfmal so viele Reichsmark in Umlauf gewesen wie 1914. Um die hohen Reparationen zahlen zu können und gleichzeitig den eigenen Staatshaushalt zu finanzieren, wurden Schuldenberg und Geldmenge ab 1921 weiter erhöht.

Im Herbst 1923 kostet ein Brot in Dresden Hundert Millionen

Schließlich, da im Folgejahr viele ausländische Kreditgeber das Vertrauen in die deutsche Wirtschaft verloren, blieb nur noch die Druckerpresse. So fiel der Wert der Reichsmark ins Bodenlose. Im Mai 1921 stand der Dollar bei 65 Mark. Im Juli 1922 bei 670 Mark. Jetzt, während der Ruhrkrise 1923, reißt der Kurs die Eine-Million-Marke. Im Oktober wird er auf 72 Milliarden klettern.

Für ein Straßenbahnticket in Dresden muss man im Sommer Hunderttausend Mark hinlegen, im Herbst für ein Brot Hundert Millionen. Es gibt Tage, an dem der Laib abends das Zigfache des Preises vom Morgen kostet. Deutschland ist gefangen, schreibt Wirtschaftshistoriker Sebastian Teupe, in einem „dreifachen Teufelskreis von abstürzendem Wechselkurs, ausuferndem Haushaltsdefizit und explodierender Geldmenge“.

Wieviel Brot man dafür im Herbst 1923 in Dresden kaufen kann, kommt an manchen Tagen darauf an, ob man morgens oder abends zum Bäcker geht.
Wieviel Brot man dafür im Herbst 1923 in Dresden kaufen kann, kommt an manchen Tagen darauf an, ob man morgens oder abends zum Bäcker geht. ©   dpa

„In Sachsen herrschen rote Anarchie und Terror“

Sachsen – dicht bevölkert, stark urbanisiert, hoch industrialisiert und damit exportabhängig wie keine andere Region im Reich – trifft die Krise besonders hart. Unzählige stürzen ins Elend, zeitweise beträgt die Arbeitslosigkeit 70 Prozent. Es fehlt an Grundnahrungsmitteln wie Brot und Kartoffeln, jedes zweite Kind in Leipzig ist unterernährt. In Dresden können viele vor Schwäche nicht mehr zur Schule. Zugleich lassen die hohen Sozialleistungen den Landeshaushalt kollabieren.

Not und Unzufriedenheit entladen sich in Hungerunruhen und Demonstrationen. Mancherorts führen Zorn und politische Agitation zu „proletarischen Abrechnungen“ mit Betriebsdirektoren, sogar zu Plünderungen von Händlern und Bauern. Die betroffenen Unternehmer, meist entschiedene Gegner der Landesregierung, fühlen sich von Behörden und Polizei im Stich gelassen und fordern Berlin zum Eingreifen auf. „Eingaben und Brandbriefe etwa des Verbands Sächsischer Industrieller häufen sich“, schildert der Historiker Mike Schmeitzner. „In Sachsen – so der Tenor – herrsche rote Anarchie und Terror.“

Proletarische Hundertschaften sorgen für Unruhe

Größter Stein des Anstoßes für Sachsens Unternehmer und die Reichregierung in Berlin sind die „Proletarischen Hundertschaften“ im Freistaat. Mit Billigung der KPD gegründet im März von der SPD-geführten Landesregierung unter Ministerpräsident Erich Zeigner, sind ihre Verbände knapp 17.000 Mann stark, schlecht bewaffnet, aber entschlossen. Offiziell sollen sie Einrichtungen der Arbeiterorganisationen und Versammlungen schützen. Und bereitstehen, falls Militär vom separatistischen Bayern aus einmarschiert.

Die Sorge ist nicht unbegründet: Tatsächlich ziehen im Raum Hof Einheiten der illegalen rechtsextremen „Schwarzen Reichswehr“ auf, toleriert durch und bewaffnet von der legalen Reichswehr. Verbände, die eine latente, oft genug auch aktive Bedrohung der Republik darstellen. Doch bei vielen Übergriffen und Unruhen in Sachsen sind die Proletarischen Hundertschaften ebenfalls involviert, oft an führender Stelle.

Die Sowjetrepublik muss in Sachsen errichtet werden

Noch etwas macht sie zum Roten Tuch, für die Regierung in Berlin ebenso wie für Teile der Sächsischen SPD: dass sie genutzt werden könnten als militärischer Schlagarm für eine kommunistische Revolution. Die Gefahr scheint noch zu wachsen, als Ministerpräsident Erich Zeigner am 10. Oktober Fritz Heckert und Paul Böttcher ins Kabinett holt und mit Heinrich Brandler ein dritter KPD-Politiker Leiter der Staatskanzlei wird.

Die Sozialdemokraten glauben weiter, die Kommunisten seien in der Koalition gezähmt und letztlich demokratietreu. Worte wie die Dresdner Rede von Clara Zetkin nehmen sie nicht für bare Münze. Eine Zeitung gibt die KPD-Ikone wieder: „Die Sowjetrepublik müsse in Deutschland zum ersten Mal in Sachsen errichtet werden, um der Bourgeoisie den Fuß auf den Nacken zu setzen.“

Allein in Freiberg sterben bei Schießereien 30 Menschen

Dass der Konflikt im Oktober offen ausbricht, liegt nicht zuletzt am zerrütteten Verhältnis zwischen Reichwehrminister Otto Geßler und Erich Zeigner. Der hat mehrfach gegen die illegale Vergrößerung der Reichswehr und deren Kooperationen mit Verfassungsfeinden polemisiert und lässt die Armee durch Polizei überwachen. Immer entschiedener fordert Geßler die Absetzung Zeigners bei Reichspräsident Friedrich Ebert und Kanzler Gustav Stresemann.

Der Liberaldemokrat Stresemann ist Nachfolger von Wilhelm Cuno und hat den Ruhrkampf beendet. Seine Große Koalition aus SPD, Zentrum und Liberalen soll den nationalen Notstand bewältigen. Am 26. September verhängt sie den Ausnahmezustand. Jetzt kann Geßlers Wehrkreisbefehlshaber die Proletarischen Hundertschaften verbieten und Sachsens Polizei seinem Befehl unterstellen. Am 20. Oktober marschieren Reichwehr und Schwarze Reichwehr ein. Es gibt Schießereien, allein in Freiberg sterben 30 Menschen.

Als die Reichswehr einmarschiert, kommt es überall zu Schießereien. Allein im sächsischen Freiberg sterben dabei 30 Menschen.
Als die Reichswehr einmarschiert, kommt es überall zu Schießereien. Allein im sächsischen Freiberg sterben dabei 30 Menschen. © bpk / Deutsches Historisches Museum

10 Jahre später verwandelt sich Sachsen ins NS-Musterland

Am Folgetag ruft Heinrich Brandler während einer Arbeiterkonferenz zum Generalstreik auf, zur Revolution, und scheitert; offenbar wollen die Arbeiter keine Diktatur des Proletariats. Doch mit Verweis auf diesen Umsturzversuch des Staatskanzleichefs fordert Stresemann am 27. Oktober die Regierung Zeigner zum Rücktritt auf. Die weigert sich. 48 Stunden später schafft die Reichswehr Tatsachen.

Was im Reich nach Regierungsrücktritt und Neubildung gelingt, schafft auch der Freistaat: Konsolidierung der Wirtschaft und politische Stabilität unter einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung, toleriert durch die DDP. Die Neigung zu radikalen Strömungen und Parteien ist an der Elbe vorerst gedämpft. Dieses „vorerst“ dauert bis 1929. Zehn Jahre nach der Reichsexekution verwandelt sich Sachsen ins nationalsozialistische Musterland schlechthin.

Die Demokratie war noch nicht tief genug verankert

„Die Weimarer Republik hat 1923 eine erstaunliche Überlebensfähigkeit bewiesen“, schreibt der Publizist Volker Ullrich. Tatsächlich war es keineswegs unausweichlich, dass und wie sie 1933 enden würde. Aber es fehlte der Demokratie an Verankerung und der Republik die Kraft, der Wille und letztlich auch die Mehrheiten, endgültig mit der autoritären Vergangenheit und den alten Eliten samt deren reaktionären Werten zu brechen.

So löste der nächste Weltwirtschaftskrisenschock 1929 neuerliche Verheerungen aus, was schließlich doch zur Selbstzerstörung der ersten deutschen Demokratie führte und 1939 in eine Weltkatastrophe, die jene der Jahre 1914 bis 1918 tief in den Schatten stellte.