SZ + Feuilleton
Merken

Mord vor Heiligabend

Vor 25 Jahren geschah im Regionalexpress zwischen Zwickau und Glauchau ein grausames Verbrechen. Erst nach viele Jahren konnte der Täter gefasst werden.

Von Oliver Reinhard
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Als der Regionalexpress 4412 am 22. Dezember 1995 pünktlich um 20.37 Uhr in den Bahnhof von Glauchau einfährt, wartet ein junger Mann vergeblich darauf, dass seine Freundin aussteigt. Die 20-jährige Pflegerin wurde unterwegs ermordet.
Als der Regionalexpress 4412 am 22. Dezember 1995 pünktlich um 20.37 Uhr in den Bahnhof von Glauchau einfährt, wartet ein junger Mann vergeblich darauf, dass seine Freundin aussteigt. Die 20-jährige Pflegerin wurde unterwegs ermordet. ©  [M] dpa / SZ

Auf ihrem Zimmer in der Reha-Klinik Kreischa packt Andrea Dittrich ihre Tasche. Es ist der 22. Dezember 1995, die junge Pflegerin macht sich auf den Weg zu ihrer Familie nach Crimmitschau und vor allem zu ihrem Freund. Obwohl sie Heiligabend zurück im Krankenhaus sein muss, will die 20-Jährige die Zeit nutzen, um die ihr liebsten Menschen zu sehen, wenigstens für ein paar Stunden. Die Reise dauert mehrere Stunden.

Zunächst nimmt Andrea Dittrich den Bus bis Freital, dort steigt sie in den Regionalexpress 4412 von Dresden nach Zwickau. Am Bahnhof Glauchau, so ist es verabredet, will ihr Freund sie abholen. Doch der junge Mann wartet vergebens. Als der Zug pünktlich um 20.37 Uhr einrollt und die Fahrgäste aussteigen, ist seine Freundin nicht darunter. Auch der nächste Zug eine Stunde später kommt ohne sie in Glauchau an.

Andrea Dittrich wollte von Kreischa aus ihre Familie in Crimmitschau besuchen. Doch dort kam die junge Frau nie an.
Andrea Dittrich wollte von Kreischa aus ihre Familie in Crimmitschau besuchen. Doch dort kam die junge Frau nie an. ©  Archiv/dpa

Zu diesem Zeitpunkt ist Andrea Dittrich längst tot. Ihr Körper liegt neben den Bahngeleisen zwischen Sankt Egidien und Hohenstein-Ernstthal im Schnee. Am Morgen des 23. Dezember entdeckt ihn ein Lokführer aus seiner fahrenden Maschine heraus. Wenige Stunden später muss Knut Dittrich seine tote Tochter identifizieren. Andrea ist misshandelt, vergewaltigt, erwürgt und aus dem fahrenden Zug geworfen worden.

"Es war für mich eines der brutalsten Verbrechen"

So begann einer der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der Neunziger. Jahrelang ermittelten die Behörden, vernahmen Zeugen, verfolgten Spuren, baten die Bevölkerung in drei Fernsehsendungen um Mithilfe, brachte der Vater sogar das Geld für eine hohe Belohnung auf – ohne Erfolg. Zu den Menschen, die diese Entwicklungen aus beruflichen Gründen begleiteten, gehörte Gabi Thieme, Polizeireporterin der Chemnitzer Tageszeitung Freie Presse. Niemand außer den Behörden und den Angehörigen ist ähnlich vertraut wie sie mit dem „Mord im Regionalexpress“, wie Gabi Thieme ihr Buch darüber genannt hat.

„Es war für mich eines der brutalsten Verbrechen, mit denen ich je zu tun hatte“, gibt sie zu. „Vielleicht berührte mich der Fall auch deshalb so sehr, weil ich am Vormittag des Heiligabends beim Weihnachtsbaumschmücken mit der Tat konfrontiert wurde. Wann werden Journalisten schon am 24. Dezember von der Polizei zu einer Pressekonferenz zusammengetrommelt?“ Thieme rekonstruiert das Geschehen und die jahrelangen Ermittlungen bis zu den Prozessen sehr genau. Nüchtern, sachlich, detailliert, ohne sprachliche und stilistische Arabesken; ganz die gestandene Polizeireporterin. Die Fülle ihres Wissens ist erstaunlich. Ihre Art der Handreiche für den Leser ebenfalls.

Am Dresdner Landgericht wurde 2002 dem Täter Jens Westphal, hier verdeckt mit seinem Anwalt, zum zweiten Mal der Prozess gemacht.
Am Dresdner Landgericht wurde 2002 dem Täter Jens Westphal, hier verdeckt mit seinem Anwalt, zum zweiten Mal der Prozess gemacht. © dpa

Wie damals die Polizei geht Gabi Thieme im Buch auch solchen Spuren noch einmal nach, die sich schließlich als tote Gleise herausstellen. Und dass ein solches Verbrechen überaus emotionale Folgen hat, vor allem natürlich für die Hinterbliebenen, auch das macht sie nachvollziehbar, ein Mit-Fühlen somit möglich.

Letzte Gedanken des Opfers

Was überrascht: Thieme entscheidet sich nicht ganz für die Perspektive der Ermittler. Vielmehr spielt sie ihr Wissen um den Täter und dessen weiteres Schicksal nach dem Mord ebenfalls aus. Das nimmt ihrem Buch ein wenig die Spannung, aber schließlich ist „Mord im Regionalexpress“ ja auch kein Krimi ... Sehr weit, vielleicht zu weit lässt Gabi Thieme ihrer Fantasie die Zügel schießen: Sie beschreibt Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle des Opfers und des Mörders. Mithin Dinge, die niemand wissen kann. Auch sie nicht.

Dieser Mix aus Fakten und Fiktion – auch Faction genannt – ist seit Truman Capotes „Kaltblütig“ zwar ein äußerst populärer literarischer Stil. Aber eben einer mit Tücken, mit dem Beigeschmack des Hinzuerfundenen. Dabei hätte Gabi Thiemes tatsächliches Wissen auch ohnedem ausgereicht, um aus „Mord im Regionalexpress“ (das noch einen weiteren Fall enthält) ein gutes Buch zu machen.

Gabi Thieme: Mord im Regionalexpress. Verlag Neues Leben, 256 Seiten, 14 Euro