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Die DDR als Land des Zirkus und des Urans

Die Leipziger Autorin Tina Pruschmann erzählt von Zirkusglanz und Bergbau in der DDR - und was das alles mit Kiew zu tun hat.

Von Karin Großmann
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Tina Pruschmann erforscht die jüngere Vergangenheit im Osten mit ihren Brüchen und Umbrüchen.
Tina Pruschmann erforscht die jüngere Vergangenheit im Osten mit ihren Brüchen und Umbrüchen. © Anja Jungnickel

Staatszirkus der DDR. Wismut im Erzgebirge. Kiew nach der Katastrophe von Tschernobyl. Drei Orte markieren das Terrain, auf dem Tina Pruschmann erzählt. Ein Ort hat mit dem anderen zu tun. Jeder erlebt eine Endzeit. Das Verbindungsstück heißt Ida und ist ein neugieriges Zirkusmädchen, das zu einer unerschrockenen jungen Frau heranwächst. Womöglich eine mit dunklen Haaren und dunklen Augen? Gleich wittert man Parallelen.

Das Geburtsjahr 1975 von Autorin und Hauptfigur stimmt schon mal überein. Es steckt ja doch in jeder Literatur etwas vom Verfasser oder von der Verfasserin drin. Tina Pruschmann weist die Vermutung lächelnd zurück. Nein, sie hing nie am Trapez in der Zirkuskuppel. Sie hatte nie eine Oma im Erzgebirge. Und sie betreute auch nie Elefanten im Kiewer Zoo. Also alles erfunden? So könne man das nicht sagen. „Ich recherchiere viel und greife auf Dinge zurück, die ich erfahren habe. Es interessiert mich sehr, wahre Geschichten aufzuspüren oder Gerüchten zu folgen und sie in die Erzählung einzubauen. Es lässt sich überall was entdecken.“

Das Buch: Tina Pruschmann, Bittere Wasser. Rowohlt, 284 Seiten, 22 Euro
Das Buch: Tina Pruschmann, Bittere Wasser. Rowohlt, 284 Seiten, 22 Euro © PR

Wie das passiert, erzählt die Leipziger Autorin an einem Beispiel. 2018 reiste sie auf eigene Faust zur Recherche nach Kiew. Lief zwei Paar Schuhe durch in vier Wochen. Staunte über die disziplinierten Schlangen am Busbahnhof. Freute sich über Rabattenmuster mit Stiefmütterchen in den Parks. „Das erinnerte mich an meine DDR-Kindheit.“ In einem Vorort entdeckte sie ein fast sakrales Gebäude mit einem Trompetenengel auf dem Dach. Ein Marmortempel. Sie ging hinein. Ein älterer Mann erklärte ihr auf Englisch den Zweck des Baus.

Und dann sah sie es auch: Im Café der Klinik saßen lauter Paare mit Baby im Arm. Ein legales Geschäftsmodell. Der Roman greift es auf. Da verdient sich eine junge Ukrainerin 20.000 Dollar als Leihmutter. Natürlich hat sie der vermittelnden Agentur nichts von ihrer Nähe zu Tschernobyl gesagt, sondern was geflunkert vom glücklichen Aufwachsen in Jakutien, von Lachsfang und Mammutknochen. Ihr Rat: „Es kommt darauf an, zur richtigen Zeit die richtige Geschichte zu erzählen.“

Aktualität steigert Aufmerksamkeit

Die Autorin setzte gerade den Schlusspunkt unter ihr Manuskript, als der Krieg gegen die Ukraine begann. Die Aktualität steigert die Aufmerksamkeit für das Buch. „Ich kann den Gedanken schlecht aushalten, dass durch die Straßen meines Romans nun Panzer rollen“, sagt Tina Pruschmann. Schlecht aushalten könne sie auch Forderungen nach einem sofortigen Stopp von Waffenlieferungen. „Welche Sicherheitsgarantie gibt es denn für die Ukraine, dass nicht später ein neuer Krieg folgt? Was würde Putin schlussfolgern, wenn man ihn einen konventionellen Krieg gewinnen und Gebiete erobern lässt? Gibt es einen einzigen Grund, ihm zu trauen?“ Wer die Diplomatie zu diesem Zeitpunkt für den einzigen Weg hält, müsse solche Fragen beantworten.

Die Leipziger Schriftstellerin spricht beim Treff im Café mit großer Ernsthaftigkeit. Sie hat bereits ein Stück Leben hinter sich. Nach einem abgebrochenen Jurastudium wurde sie Ergotherapeutin, unterrichtete an einer Fachhochschule und absolvierte ein Fernstudium: Soziologie und Psychologie. Bei der freiberuflichen Arbeit für Fachzeitschriften merkte sie, wie viel Spaß ihr das Schreiben machte. Aber davon leben? Das gelingt etwa fünf Prozent aller deutschsprachigen Literaten. Die meisten jobben nebenbei als Lektoren, Lehrer, Platzanweiser, Kellner, Schnitzelbrater. Tina Pruschmann ist seit drei Jahren bei der Sana-Klinik Leipziger Land angestellt als Projektkoordinatorin und Referentin für Unternehmenskommunikation. „Die finanzielle Sicherheit ist mir wichtig“, sagt sie, „dadurch bin ich unabhängig vom Erfolg des Schreibens.“ Es ist ein Teilzeitjob mit bezahltem Urlaub. „Die freie Zeit kann ich komplett fürs Buch nutzen.“ Zur Premiere hatte sie Klinikkollegen eingeladen.

Glücksritter mit Schlangenlederschuhen

Ihr Debütroman „Lostage“ erschien 2017. Der Titel meint Tage, die das Leben verändern. Im neuen Roman „Bittere Wasser“ gibt es viele davon für das Mädchen Ida. Einmal wäre sie fast vom Trapez gestürzt. Tina Pruschmann erzählt von Akrobaten, Pferden, Kamelen und Bären, als sei sie dabei gewesen im Staatszirkus Aeros. Das exotische Glitzern in einem Land, das sonst optisch nicht viel hermachte – das habe sie interessiert. Und dann das schmähliche Ende gleich nach dem Mauerfall. Die Treuhand sah den Zirkus nicht als Kunstinstitut, sondern als Dienstleistungsbetrieb, der schnellstmöglich zu privatisieren war. Ein kleiner ostdeutscher Zirkusbetreiber führte ihn eine Weile weiter.

Im Roman übernimmt ein Glücksritter in Nadelstreifen mit Schlangenlederschuhen das Chapiteau samt Inhalt für eine symbolische Mark und bekommt noch „ein Startdarlehen von dreihundertsiebzig Riesen und das Lächeln des Liquidators obendrauf“. In der Abwicklungsgeschichte der DDR gab es viele solche Figuren, sagt die Autorin. Sie konnte sich auf Publikationen und ein Internetportal zum Staatszirkus stützen. Der Roman beschreibt, wie die Mitarbeiter ihre Festanstellung verlieren und den Dienstleistungsstatus als eine der großen Kränkungen erleben.

Mix aus Faustan und Blauem Würger

Idas Vater verkraftet den Verlust nicht. Sein Zirkuswohnwagen steht am Ende in Tann. Der fiktive Ort im Erzgebirge ähnelt Bad Schlema. Der Kontrast zwischen Glitzerrausch und grauen Halden könnte kaum größer sein. Die Fiktion schafft Distanz und gibt mehr Spielraum, sagt Tina Pruschmann, Straßen- und Kneipennamen müssen nicht stimmen. Und doch stimmt im Buch alles bis in die feinfühlig gesetzten Einprengsel des Dialekts. Der Abend heißt Ohmd und schie meint schön. Sie brauchte nur zuzuhören, sagt die Autorin. Sie hat ein gutes Gespür für Sprache, für Redewendungen, Berufsjargon, Ironie. In den Sommerferien bei der Großmutter hörte sie als Kind Thüringer Platt. „Und ich bekam ein Gefühl für die Atmosphäre kleiner Orte.“

Die Leute kennen einander zu gut, als dass sie sich etwas vormachen könnten, und die „Uhiesschen“ werden auch zwei Generationen später noch die Zugezogenen sein. Ida begreift „Versipptheit“ als Privileg. Mit ihrer Familiengeschichte wird die Geschichte des Bergbaus im Erzgebirge lebendig: Wie die Radonquellen entdeckt wurden und vor gut hundert Jahren Touristen in Scharen anlockten und wie die Wismut in den Fünfzigern den gesamten Ortskern samt Kurbetrieb wegsprengte für die Urangewinnung. „Vn dr Sofjetunion lern heest siechen lern“, kalauern die Kumpel. Misstrauisch verfolgen sie den Neustart in der wüsten Landschaft nach 1990. Wie in einem Brennglas zeigen sich in dieser Gegend die Brüche und Umbrüche des Ostens, so die Autorin. „Es gab nie eine Zeit der Konsolidierung, weder ökonomisch noch psychisch.“

Genug Stoff für eine Fortsetzung

Sie bringt DDR-Erinnerungen ins Buch. Das Zirkusmädchen Ida geht in Tann zur Schule. Im Sportunterricht fliegen rot lackierte Handgranatenattrappen, im Fach Produktive Arbeit werden Würfel gefeilt, und ein Mix aus Faustan und Blauem Würger bringt die Punks in Stimmung. Kunden nennen sich die Jugendlichen. Der Osten sei noch längst nicht auserzählt, meint Tina Pruschmann. „Aus einer Diktatur kommt niemand ohne Schuld raus, und die Literatur kann aufdecken, was das bedeutet.“

Im Roman beobachtet Ida: „Es bleiben so komische Sachen übrig, wenn ein Land verschwindet.“ Zum Beispiel Fahnenhalter am Fensterbrett. Oder die Art, wie die Großmutter einen Nylonstrumpf aus dem Kasten zupft und zwischen den Fingern spreizt: Laufmaschenkontrolle. Wie schön, dass jemand diese Geste bemerkt und festhält. „Details bekommt man nur, wenn man vor Ort ist“, sagt die Autorin. „Den Geruch von Braunkohleheizung vermittelt kein Internet.“ Sie hat Bad Schlema erkundet und hörte bei einer Museumsführung: Es sei denkbar, dass Uran von dort in Tschernobyl eingesetzt wurde. Der Staatszirkus der DDR gastierte oft in der Ukraine. Nach dem Aus begleitet Ida die beiden Elefanten ihres Vaters in den Kiewer Zoo. Während ihre Freunde in den Westen reisen, geht sie in den Osten. Sie bleibt zwölf Jahre. Länger als anderswo sonst. Es wäre genug Stoff für eine Fortsetzung.

  • Die nächste Lesung: 24.4., 20 Uhr, Tanteleuk in Dresden.