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Wenn die Lehrer hilflos sind: Was tun gegen Rechtsextremismus an Sachsens Schulen?

An Sachsens Schulen gibt es immer mehr rechtsextreme Vorfälle. Expertinnen der TU Dresden und das Kultusministerium gehen jetzt gemeinsam entschlossen dagegen an.

Von Oliver Reinhard
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Vor einigen Monaten berichteten zwei Lehrer aus dem Spreewald, dass an ihrer Schule der Rechtsextremismus immer mächtiger werde. Sie wurden auch im Kollegium als Nestbeschmutzer bezeichnet, gemobbt und bedroht - und haben die Stadt verlassen.
Vor einigen Monaten berichteten zwei Lehrer aus dem Spreewald, dass an ihrer Schule der Rechtsextremismus immer mächtiger werde. Sie wurden auch im Kollegium als Nestbeschmutzer bezeichnet, gemobbt und bedroht - und haben die Stadt verlassen. ©  Screenshot: SZ

Menschenfeindliche Einstellungen sind auch auf Schulhöfen, in Klassen- und Lehrerzimmern auf dem Vormarsch. Das Sächsische Landeskriminalamt registrierte im vergangenen Jahr an Schulen 122 Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund, noch mehr Fälle wie etwa Holocaustleugnung und Rassismus sind strafrechtlich nicht relevant. Schüler und Lehrer sind oft rat- und hilflos. Vor allem, wenn auch Lehrpersonal zu den Tätern gehört. So wie jener Lehrer am Berufsschulzentrum Aue, auf dessen Auto der KZ-Spruch "Jedem das Seine" in Frakturschrift klebt, der auch auf dem Tor des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald steht.

Doch Bildungsexperten und immer mehr Politiker haben verstanden und reagieren. Die Wissenschaftlerin Professor Anja Besand und ihr Team von der TU Dresden haben ein Aufklärungs- und Hilfestellungsbuch geschrieben und mit dem Sächsischen Kultusministerium den Lehrplan für Lehramtsstudierende um ein Pflichtfach erweitert: "Politische Bildung für alle". Wir sprachen mit Anja Besand über das Phänomen des Rechtsextremismus an Schulen und was nun dagegen getan wird.

Professorin Dr. Anja Besand, geboren 1971 in Grünstadt, ist Lehrstuhlinhaberin für die Didaktik der politischen Bildung an der TU Dresden und Direktorin der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie.
Professorin Dr. Anja Besand, geboren 1971 in Grünstadt, ist Lehrstuhlinhaberin für die Didaktik der politischen Bildung an der TU Dresden und Direktorin der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie. © Foto: K. Lassig

Frau Besand, die Meldungen über rechtsextreme Äußerungen an Schulen mehren sich. Sie haben das Phänomen untersucht und analysiert. Wie viele Schulen in Sachsen sind davon betroffen?

Fragen Sie mich lieber, an welchen Schulden solche Vorfälle nicht vorkommen …

Ist die Lage so schlimm?

Wir können das natürlich nur abschätzen. Man kann ja nicht in jede einzelne Schule gehen, Fragebögen verteilen und um Informationen darüber bitten, wie viele rechtsextreme Äußerungen dort bekannt sind. Deshalb müssen wir uns an die Zahlen halten, die wir haben, also die Zahlen der Berichte über solche Vorkommnisse. Aber nach meiner Einschätzung gibt es tatsächlich keine sächsische Schule, in der es solche Fälle nicht gibt.

Was genau sind das für Fälle, worüber reden wir konkret?

Auch das ist nicht so einfach. Bei welchem Namen soll man das Kind nennen? Antisemitisch? Das wird unterschiedlich motiviert sein. In unserem Buch haben wir mit dem Begriff „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ gearbeitet. Darunter fallen Rassismus, Antisemitismus, Antiromaismus, Antifeminismus und so weiter. Was der Begriff allerdings nicht berücksichtigt, ist Geschichtsrevisionismus wie Verharmlosung des Nationalsozialismus. Der geeignetste Begriff ist für uns daher „Antidemokratisches Verhalten“, der all das eben Genannte umfasst.

Laut jüngsten Informationen der Landesregierung haben solche Fälle stark zugenommen. Liegt das an der gewachsenen Sensibilität, also daran, dass mehr solcher Fälle von Schulen gemeldet werden als früher?

Eher nicht. Wir haben aus meiner Sicht derzeit noch lange kein gutes Meldeverhalten. Wir gehen davon aus, dass es nach wie vor eine große Dunkelziffer gibt. Heute sehen wir zumindest etwas deutlicher, aber immer noch nicht klar genug. Immerhin hat sich das Meldeverhalten leicht verbessert. Darüber sind wir natürlich auch deshalb sehr froh, weil wir dadurch überhaupt erst einmal die Chance haben, das Phänomen in seinem Umfang besser abschätzen und daran arbeiten zu können.

Auch wenn die Zahlen rechtsextremer Vorfälle in Sachsen hoch sind: Sie sind ein bundesweites Phänomen und kommen überall vor wie hier an einer Schule in Westfalen.
Auch wenn die Zahlen rechtsextremer Vorfälle in Sachsen hoch sind: Sie sind ein bundesweites Phänomen und kommen überall vor wie hier an einer Schule in Westfalen. ©   dpa

Wie schätzen Sie es konkret ein?

Da gebe ich Ihnen mal ein Beispiel, und so etwas ist kein Einzelfall: Ein Schulleiter ist lange Zeit sehr stolz darauf gewesen, dass seine Lehrenden und die Schülerinnen und Schüler sich so intensiv engagiert haben für demokratische Bildung, Respekt, Achtung und Toleranz. Inzwischen aber ist dieser Schulleiter völlig verzweifelt und hat mir unlängst gesagt: Meine Schule ist gekippt! Diese Verzweiflung spüren viele Schulleitungen. Sie rührt aber nicht nur daher, dass die antidemokratischen und menschenfeindlichen Vorfälle nur von Schülerinnen und Schülern ausgehen.

Sondern?

Als wir unser Projekt gestartet haben, sind wir ganz naiv davon ausgegangen, dass wir nur die Lehrkräfte unterstützen müssen, damit sie besser mit solchen Zwischenfällen umgehen können. Womit wir nicht gerechnet hatten: Diese Vorfälle kommen häufig auch von Lehrerinnen, Lehrern oder aus der Elternschaft.

Zwei solcher Vorfälle sind mir persönlich bekannt: Ein Geschichtslehrer zeigt im Unterricht historische Dokus des rechtsextremen Senders Compact-TV ohne jede Einordnung als ganz normale Geschichts-Dokus. Und eine Vertrauenslehrerin sagt ihrer Klasse, das rassistische N-Wort als Bezeichnung für Schwarze sei gar nicht rassistisch, man dürfe es ruhig benutzen …

Auch das sind keine Einzelfälle. Was uns wieder daran erinnert, dass insgesamt betrachtet die Schülerinnen und Schüler häufiger Opfer solcher Vorfälle sind als Täterinnen und Täter. Was natürlich auch mit ihrer schieren Anzahl zu tun hat. Das Problem ist, dass meistens weder die betroffenen Schülerinnen und Schüler noch die Lehrenden Hilfe und Unterstützung bekommen, mit diesen Vorfällen umzugehen. Im Gegenteil kriegen diejenigen, die sich gegen so etwas auflehnen, oft noch Probleme dafür, werden als Nestbeschmutzer behandelt. Als in Burg zwei Lehrende öffentlich beklagten, dass ihre Schule ein gravierendes Rechtsextremismus-Problem habe, wurden sie so lange gemobbt und ausgegrenzt, bis sie die Schule und die Stadt verlassen mussten.

Schon junge Schülerinnen und Schüler tragen rechtsextreme oder verschwörungstheoretische Inhalte in die Klassen. Oft haben sie diese Inhalte von ihren Eltern übernommen. Lehrerinnen und Lehrer sind oft verunsichert und wissen nicht, wie sie darauf reagier
Schon junge Schülerinnen und Schüler tragen rechtsextreme oder verschwörungstheoretische Inhalte in die Klassen. Oft haben sie diese Inhalte von ihren Eltern übernommen. Lehrerinnen und Lehrer sind oft verunsichert und wissen nicht, wie sie darauf reagier © Bundeszentrale für politische Bildung

Die eben erwähnten Zahlen für Sachsen sind alarmierend. Ist das Problem im Freistaat besonders gravierend, oder ist hier lediglich die Aufmerksamkeit dafür inzwischen größer geworden?

Genau die Frage haben wir uns auch gestellt, als wir das Buch „Politische Bildung in reaktionären Zeiten – Plädoyer für eine standhafte Schule“ geschrieben haben. Aber das lag an unserer eingeschränkten Perspektive, wir haben uns ja lediglich auf sächsische Schulen konzentriert. Während der Arbeit daran hatten wir zunächst acht exemplarische Fälle herausgearbeitet und waren damit auf Weiterbildungsveranstaltungen und Konferenzen in der ganzen Republik, in Berlin, in Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen ... Und überall sahen wir während unseres Vortrags, wie im Publikum immer mehr Köpfe zu nicken begannen. Es waren Hunderte. Danach kamen sie zu uns und wollten uns unbedingt ihre eigenen Erfahrungen mitteilen. Es war wie ein Schneeball-Effekt.

Ein bundesweites Problem also, nicht insbesondere ein sächsisches?

Es mag unterschiedliche Größenordnungen geben, aber das ist Spekulation. Jedenfalls existiert das Problem bundesweit. Sicher ist Sachsen in mancherlei Hinsicht etwas Besonderes, aber das hat auch Vorteile.

Welchen zum Beispiel?

Dass es inzwischen ein größeres Bewusstsein für antidemokratische und menschenfeindliche Vorfälle an Schulen gibt. Und dass der Freistaat nicht untätig bleibt, im Kultusministerium ist bereits vieles in die Gänge gekommen. Wenn wir das mal mit dem Jahr 2014 vergleichen, bevor durch Pegida viele unterschwellige Einstellungen offen sichtbar wurden, dann ist der Umgang mit diesen Problemen tatsächlich viel besser geworden.

Mehrere Studien und vor allem der jüngste Sachsen-Monitor der Staatsregierung belegen eindeutig, dass menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung zugenommen haben. Insofern ist es doch kein Wunder, dass diese Entwicklung sich auch bei Lehrenden und Schülern zeigen, oder?

... und natürlich in der Elternschaft, ja. Lehrende, Schülerinnen und Schüler sind Spiegel der Gesellschaft. Wir haben es nicht nur mit Hakenkreuz-Schmierereien zu tun oder mit rassistischen und NS-verharmlosenden Sprüchen von Schülerinnen und Schülern. Es kommt zum Beispiel auch vor, dass Eltern mit rechtsextremen Shirts zum Elternabend kommen, gegen Gedenkstättenbesuche der Klasse protestieren, Unterricht über die verschiedenen Religionen für „Weltoffenheitsquatsch“ halten und Sozialkunde für Umerziehung nach dem Vorbild der DDR-Staatsbürgerkunde.

Auch wenn sie die Grundwerte der Demokratie vermitteln will, wird politische Bildung oft als "links" und "Umerziehung" diffamiert.
Auch wenn sie die Grundwerte der Demokratie vermitteln will, wird politische Bildung oft als "links" und "Umerziehung" diffamiert. ©   dpa

Wie regieren die meisten Lehrerinnen und Lehrer darauf?

Vor allem verunsichert und überfordert. Sie wissen nicht, was sie gegen problematische Einflüsse aus Freundeskreisen oder Elternhäusern tun sollen. Und sie glauben immer noch, dass sie neutral sein müssten und keine Haltung einnehmen dürfen.

Steht das so nicht auch in den allgemein verbindlichen Leitlinien für politische Bildung im Unterricht, dem „Beutelsbacher Konsens“?

Nein, das ist ein großes Missverständnis. Der Konsens verpflichtet lediglich zur Überparteilichkeit und dazu, dass alles, was in der Politik und der Wissenschaft kontrovers ist, auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden muss, also von allen Seiten. Er verpflichtet aber mitnichten zur totalen Neutralität. Es gibt aber auch sogenannte nicht-kontroverse Inhalte, die als unverrückbar gelten.

Welche sind das?

Zum Beispiel die Werte des Grundgesetzes: Die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen, keine Diskriminierung anderer wegen deren Religion, Hautfarbe, Herkunft, pluralistische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Auch in der Sächsischen Landesverfassung steht, dass die Jugend unter anderem erzogen werden soll zu politischem Verantwortungsbewusstsein, zu Gerechtigkeit, zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung.

Nun werden heute solche Werte wie das Verbot der Diskriminierung von Menschen anderer Religion und Herkunft und das pluralistische demokratische Denken von manchen Menschen bereits als „links“ abgewertet ...

Ja, und das ist nicht nur ein Missverständnis, sondern rechter Populismus. Dem sollten, dem dürfen Lehrende nicht mit falscher Toleranz begegnen. Aber das ist ja nicht immer so leicht in den alltäglichen Auseinandersetzungen, erst recht nicht in der Schule, in den Alltagsgefechten.

Besuche in KZ-Gedenkstätten werden oft als schnelles Allheilmittel gegen Rechtsextremismus verstanden. Doch das ist ein Irrtum.
Besuche in KZ-Gedenkstätten werden oft als schnelles Allheilmittel gegen Rechtsextremismus verstanden. Doch das ist ein Irrtum. ©   dpa

Ist das nicht aber gerade dort besonders wichtig, weil junge Menschen in ihren Einstellungen zumeist noch nicht ganz – ich sage es möglichst neutral – verhärtet sind?

Unbedingt. Zumal in unserer vielfach zerstrittenen und fragmentierten Gesellschaft nur noch sehr wenige Räume übrig sind, in denen die Konfliktlinien überhaupt noch aufeinanderstoßen, weil wir ihnen sehr gerne aus dem Weg gehen oder uns in unseren Blasen einrichten. Und einer dieser ganz wenigen Orte, an denen ganz unterschiedliche Menschen noch aufeinandertreffen, ist die Schule. Die Schülerinnen und Schüler sind noch jung, aber sie bringen ja tatsächlich all ihre familiären und freundschaftlichen Hintergründe und ihre Lebenswirklichkeiten mit. Deshalb sollten wir uns eigentlich freuen, dass wir in den Schulen diese Überschneidung von diesen Konfliktlinien noch erleben. Wir haben es in der Pandemie gesehen, wir haben es im Kontext der Auseinandersetzung über Migration gesehen. Wir sehen es ständig, da knallen die Konflikte aufeinander.

Aber?

Aber die Schulen haben weder die Mittel noch die Zeit, um das zu bearbeiten.

Welches Mittel wäre besonders wichtig?

Zeit. Ich kämpfe seit Langem in Sachsen dafür, dass wir wie in vielen anderen Bundesländern auch eine Stunde fachunterrichtsfreie Zeit haben, in denen die Klassenlehrerinnen und Lehrer aktuelle Themen und Konflikte besprechen können. Es kann auch sein, dass man da das Geld einsammelt für die nächste Klassenfahrt. Aber wenn gestern der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, dann ist klar, dass man diese Stunde dafür nutzt, das jetzt zu besprechen. In Sachsen gibt es das nicht, und deshalb sind Lehrkräfte überfordert, weil sie jedes Mal, wenn sie so etwas planen, von der Kollegenschaft zu hören bekommen: Wir kommen eh schon mit unserem Pflichtstoff kaum hinterher.