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„Samstag gab es die Beatles im West-Fernsehen“

Vor genau 50 Jahren beginnt eine Gruppe Nünchritzer mit ihrer Ausbildung für das Chemiewerk. Jetzt traf sie sich wieder.

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© Sebastian Schultz

Nünchritz. Das Bier kostet 40 Pfennig, die Bockwurst 85, und die Karriere der Stern Combo Meißen beginnt gerade – als Lothar Schmidt, Karl-Heinz Rolle und Mathias Thiel ihren Lehrvertrag beim VEB Chemiewerk Nünchritz unterschreiben. Die Drei sind 16 und wollen Maschinenbauer werden. „Das war kein Traumberuf“, erinnert sich Karl-Heinz Rolle, aber man ist eben vertan. Für viele Nünchritzer wie Lothar Schmidt gibt es sowieso keine Alternative: „Da mein Vater drin war, ging ich automatisch auch ins Chemiewerk“, sagt er heute. Und schließlich hat das Chemiewerk schon damals landesweit einen guten Ruf, erinnert sich Lehrmeister Werner Tannert, der die drei Jungs in Gölzau bei Köthen unterrichtet. Denn weil es für Maschinenbauer noch keine eigene Lehrstätte in Nünchritz gibt, ziehen die Jugendlichen im September 1966 in das Wohnheim vom VEB Gölzaplast, dem größten Kunststoffproduzenten der DDR, ein. Genau 50 Jahre später haben sie nun ihre Erinnerungen im Gasthof Grödel aufleben lassen – mit vielen Fotos, alten Dokumenten und dem Tagebuch von Mathias Thiel.

Die Lohntüte hat Mathias Thiel aufgehoben. Im Monat blieben 22,70Mark.
Die Lohntüte hat Mathias Thiel aufgehoben. Im Monat blieben 22,70Mark. © Repro: Sebastian Schultz
Das Lehrlingswohnheim in Gölzau war in den 1960ern eine schlichte Baracke.
Das Lehrlingswohnheim in Gölzau war in den 1960ern eine schlichte Baracke. © Repro: Sebastian Schultz

Frauen, Bier und Musik spielen darin eine große Rolle. Es geht hoch her, als das Orchester Richter aus Dessau in Gölzau zum Tanz aufspielt und das Studio 66 zum Weihnachtsfest in Köthen. Oder als die jungen Männer auf Heimatbesuch mit den Orions in der Freundschaft Zeithain feiern und mit der Stern Combo Meißen in Nünchritz. Bleiben die Lehrlinge übers Wochenende in Gölzau, spendiert Werner Tannert seinen Jungs manchmal ein Bauernfrühstück oder besucht mit ihnen auch mal Berlin. Nur Sonnabendnachmittag zogen sich die Lehrlinge freiwillig in ihr Wohnheim zurück, um heimlich die Beatles, die BeeGees oder The Small Faces zu sehen. – „Jeden Samstag gab es den Beat-Club“, erzählt Mathias Thiel von der westdeutschen Musiksendung. Das ist in Gölzau eigentlich unmöglich, da der Heimleiter bei dem einzigen Fernseher im Wohnheim die dafür notwendige Spule entfernt hatte. Doch die findigen Lehrlinge bauen die nach – und jeden Sonnabend für eine knappe Stunde wieder ein. „Einer hat dann an der Tür Wache gestanden und einer am Fenster“, erinnert sich der heutige Rentner. Außerdem wird der Raum so gut es geht verdunkelt – und auf gutes Wetter gehofft. Denn nur dann ist die Musiksendung in Gölzau zu sehen. Ob Ausbilder und Heimleiter wirklich nichts davon wissen, ist unklar, denn zumindest Werner Tannert hat schon damals Nachsehen mit seinen Lehrlingen.

Nach der Armee arbeitet der heute 73-Jährige einige Jahre als Ausbilder für Gölzaplast. Mit Mitte 20 ist er mit verantwortlich für 100 Maschinenbau-Jungs und 400 Plaste-Mädels, wie er die weiblichen Lehrlinge für Kunststoffverarbeitung nennt. „Die Jungs hatten es damals nicht leicht, sie konnten nicht mit dem Schichtbus um 16 Uhr zu Mutti fahren“, erinnert sich Werner Tannert. Stattdessen müssen sie in der Fremde mit wenig Geld zurechtkommen. Denn von den 50 Mark Lehrlingsgehalt geht allein über die Hälfte fürs Wohnheim drauf. Gearbeitet wird dafür auch mindestens jeden zweiten Sonnabend, und zwischendurch geht es auch mal zum „Knüppelgang“ – zum Kartoffellesen.

Richtig ackern müssen die Jugendlichen aber erst am Ende ihrer Ausbildung, als sie im Nünchritzer Chemiewerk eingesetzt werden. „Man muss da ganz schön ran. So fertig war ich in meinem ganzen Leben noch nicht“, schreibt Mathias Thiel nach der ersten Woche in sein Tagebuch. Trotzdem bleiben zunächst alle Drei in Nünchritz. Mathias Thiel bis 1976 – bis er seiner Frau nach Dresden folgt und im VEB Sachsenwerk anfängt. Lothar Schmidt macht später seinen Meister und hängt noch ein Ingenieurstudium dran. Und nur Karl-Heinz Rolle arbeitet tatsächlich bis zu seiner Rente im Chemiewerk als Anlagenschlosser.