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Schattenjäger auf der Sonnenseite

Über den Wolken ist nicht nur die Freiheit, sondern auch die Sicht auf die Sonnenfinsternis (fast) grenzenlos. Wer in den Kernschatten fliegt, hat kein Problem mit den Wolken. SZ-Redakteur Gernot Grundwald hat genau das gemacht.

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Wenn die Sonnenfinsternis nicht zu uns kommt, kommen wir eben zu ihr! So einfach ist es heutzutage für Sternengucker, Hobbyastronomen und Astrofotografen, in den Genuss einer totalen Sonnenfinsternis zu kommen. Sie buchen bei einem Spezial-Reiseveranstalter wie Eclipse-Reisen einen Flug, zahlen um die 2 000 Euro, um dann drei bis vier Minuten im Kernschatten des Mondes mitzufliegen und von dort die verdunkelte Sonne zu sehen. Ohne lästige Wolken. Länger und sicherer als im Flugzeug war die gestrige Sonnenfinsternis nirgendwo unten auf der Erde zu beobachten.

Finsternis im Weltraum. Foto: ESA/dpa
Finsternis im Weltraum. Foto: ESA/dpa © dpa
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Das wissen nun auch Mirko und Stefan. Ich treffe sie beim Einchecken am Flughafen in Zürich. Die beiden Brüder aus Coswig sind passionierte Astronomiefreunde und wollten sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen. Zusammen mit knapp 100 anderen „Schattenjägern“ haben sie einen Platz auf der rechten, der Sonnenseite des Airbus A 320 gewählt und fiebern dem Abenteuer entgegen. Einige von ihnen sind schon mehreren Finsternissen hinterhergereist: nach Namibia, Patagonien, Spitzbergen. Meistens allerdings zu irdischen Beobachtungscamps.

Das seltene Glück, eine totale Sonnenfinsternis in Deutschland zu erleben, hatten wir zuletzt am 11. August 1999. Das nächste vergleichbare Ereignis wird erst wieder in 66 Jahren wiederkehren. Diesmal rauscht der Kernschatten an der äußersten nordwestlichen Ecke Europas vorbei. Gerade noch von Mitteleuropa mit einem Mittelstreckenflugzeug erreichbar. Genau dort fliegen wir hin.

Es ist kurz nach sechs Uhr in der Frühe. Vor dem Boarding noch ein paar Anweisungen, dann ein Foto. Die Gruppe ist so groß, dass kaum alle aufs Bild passen, die Atmosphäre trotzdem familiär.

Um Punkt 7.07 Uhr startet das erste von drei gecharterten Passagierflugzeugen von Air Berlin. Die beiden anderen Maschinen, ebenfalls vollgeladen mit Sonnenfinsternis-Touristen, heben eine Stunde später in Düsseldorf ab. Ziel ist eine schmale Trasse im Nordatlantik, in der die totale Phase der Finsternis bevorsteht. Die Route und die Wegpunkte sind bis auf die Sekunde genau berechnet. Der Lauf von Sonne und Mond bestimmt den Zeitplan der Flugzeuge.

8.00 Uhr: Wir haben den Ärmelkanal überflogen. Ich habe auch einen Fensterplatz ergattert, allerdings auf der linken, der eher uninteressanten Bordseite, und hoffe, dass es trotzdem interessant wird.

Der Flugkapitän begrüßt die Passagiere, und der Reiseleiter erläutert erst die technischen Daten des Fluges, dann den Verhaltenskodex. Da die zahlenden Fluggäste auf den drei rechten Sitzen alle mal ans Fenster wollen, müssen die Plätze getauscht werden. Das muss sehr schnell gehen, also wird der Platzwechsel vorher geübt. 18 Sekunden, das ist zu langsam! Beim zweiten Mal geht es schneller. Schließlich dauert der Flug in der Totalphase nur knapp vier Minuten. Also hat jeder nur gut eine Minute fürs Beobachten und Fotografieren. Außerdem müssen noch einige Sitzlehnen justiert werden, damit sie nicht die Fenster blockieren. Daran haben die Airbus-Konstrukteure offensichtlich nicht gedacht. Sitzabstände und Fensterabstände stimmen nicht überein, das weiß jeder, der schon mal in den Urlaub geflogen ist.

9.03 Uhr: Im Gang spielt sich eine rührende Szene ab. Zwei Astro-Veteranen erkennen sich wieder, fallen sich mit Tränen in den Augen in die Arme. Sie hatten sich vor vielen Jahren bei einer Sonnenfinsternis und später bei einem Venustransit getroffen.

9.25 Uhr: Wir lassen Schottland hinter uns. Es ist höchste Zeit, den Sitzplatzwechsel noch einmal zu trainieren. Und siehe da: Es klappt schon besser. Das Zielgebiet naht.

9.40 Uhr: Was wir von hier oben nicht sehen können: Der Halbschatten des Mondes erreicht Sachsen. Auch in Dresden müsste in diesen Minuten der Mond langsam beginnen, sich vor die Sonne zu schieben.

10.05 Uhr: Der Kopilot gibt durch, dass wir wegen des Rückenwinds etwas zu früh sind, er kündigt eine Warteschleife an. Die drei Air-Berlin-Maschinen reihen sich in verschiedenen Flughöhen entlang des Weges des Kernschattens ein. Insgesamt sind an die 20 Maschinen im Korridor.

10.09 Uhr: Der Kernschatten berührt zuerst die Ozeanoberfläche irgendwo zwischen Grönland und den Azoren, östlich von Neufundland, und wandert schnell nordostwärts. Das Licht bekommt eine seltsame Tönung. Die Wolken unter uns, eben noch weiß wie Zuckerwatte, sehen jetzt mehr aus wie Erdnussbutter. Über den Färöer-Inseln reißt die Wolkendecke auf. Die Kreuzfahrtschiffe, die mit ihren Passagieren auf gute Sicht warten, scheinen Glück zu haben.

10.30 Uhr: Die Erdnussbutterwolken unter uns werden wieder dichter. Der tiefblaue Himmel über uns bekommt eine bedrückende graubraune Färbung. Wie ein riesiges Ufo ohne klare Konturen nähert sich der Kernschatten des Mondes. Er überholt uns. Immerhin ist er dreimal so schnell wie der Schall, da hätten weder die Concorde noch die russische Tupolew Tu-144 mithalten können. Aber der Airbus kann mit 0,81-facher Schallgeschwindigkeit die totale Dunkelphase immerhin um etwa eine Minute verlängern.

10.40 Uhr: Auf der Südinsel der Färöer hat der Mondschatten erstmals Landkontakt. Und auch wir sind im Kernschatten. Raunen und Getuschel. In der Kabine ist es dunkel, es herrscht absolutes Blitzlicht- und Leselampenverbot. An jedem Fenster auf der Steuerbordseite kleben jeweils sechs Augen, drei Teleobjektive und drei offene Münder.

10.46 Uhr: Die Finsternis hat ihre Mitte erreicht. Das mysteriöse bräunliche Licht wird begleitet von einem orangeroten Horizont. Wie ein riesiges Abendrot. Der Kernschatten ist über die Färöer-Inseln hinweggestrichen und rast weiter in Richtung Spitzbergen. Der Sitzplatzwechsel auf der Steuerbordseite klappt tadellos.

10.50 Uhr: Der Zauber scheint vorbei zu sein. Obwohl wir noch im Halbschatten sind, ist das geheimnisvolle braune Licht einer trüben Dämmerung gewichen.

10.57 Uhr: Unser Airbus verlässt mit einer Rechtskurve den Schattenkorridor und dreht ab nach Süden. Fotos werden gecheckt, Eindrücke ausgetauscht, Tränen weggewischt, Interviews geführt. Die Aufregung legt sich langsam. Alle freuen sich auf die angekündigte warme Mahlzeit.

11.10 Uhr: Der Mondschatten erreicht Spitzbergen. Dort sieht es zumindest von oben schlecht aus. Eine dichte Wolkendecke scheint die Sicht zu versperren. Hoffentlich sind die vielen Gäste nicht umsonst dorthin gefahren.

11.21 Uhr: Der Kernschatten verlässt unweit des Nordpols die Erdoberfläche. Damit ist die totale Phase dieser Sonnenfinsternis vorbei. Zu Hause in Sachsen wird die angeknabberte Sonne noch zu sehen sein.

12.00 Uhr: Der Halbschatten des Mondes verlässt Sachsen und verflüchtigt sich in Richtung Sibirien. Flugkapitän Ralf Hoheisel ist zufrieden: „Wir haben die wichtigen geplanten Wegpunkte auf die Sekunde genau erreicht. Es war ein erhebendes Gefühl.“ Der Kapitän fliegt schon seit 25 Jahren, aber das war für ihn der erste Sonnenfinsternisflug.

Mirko und Stefan aus Coswig indes denken schon an die nächste erreichbare „Sofi“: 21. August 2017 in den USA.