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Sehnsucht nach häuslichem Frieden

Dr. Ernst Wirth war als Stadtrat streitbar. Jetzt hat er sich zurückgezogen und vermisst erst einmal nichts.

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© Steffen Unger

Von Gabriele Naß

Bischofswerda. Als er ging, war er gerührt. Seine letzte Sitzung als Stadtrat verließ Dr. Ernst Wirth Ende Februar gleich nach der Abstimmung über seinen freiwilligen Rücktritt früher als die anderen. Man schaute ihm nach, große Worte für des Doktors Arbeit im Parlament und für die Stadt waren gerade gesprochen worden. Für einen, der fehlen wird. „Ich durfte nur kurze Zeit mit dir zusammenarbeiten, aber ich durfte von dir vereidigt werden“, sagte Oberbürgermeister Holm Große. Ungern lasse er ihn jetzt ziehen, „einen wie ihn, einen mit seiner Art und Weise, brauchen wir.“

Auch Dr. Wirth sagte vorm Gehen Danke. Er bedankte sich für „konstruktive Zusammenarbeit“, „für „Geduld“ und „Gespräche, die für meinen Hinterkopf wichtig waren“. Wirth, der immer wohl überlegt formuliert hat, erklärt nun im Nachgang, er habe immer wieder über Worte und Formulierungen nachgedacht. „Ich weiß, wie schmerzhaft Worte sein können.“ Wirth stand für die streitbare Kultur im Parlament und wird vor allem deswegen fehlen. Aber der Mann weiß, wann es genug ist. Seine letzten Worte als Stadtrat waren: „Ich war zuletzt nicht mehr so streitbar, weil einfach die Kräfte nachgelassen haben.“ – Die SZ hat Dr. Ernst Wirth in seinem neuen Leben ohne Mandat zu Hause besucht. Wir wollten wissen, wie er dort angekommen ist, was ihn bewegt hat und immer noch bewegt, was er plant.

Im Haus der Wirths in Bischofswerda ist Leben. Tochter Dr. Miranka Wirth mit Söhnchen Arthur Matthäus ist aus Berlin gekommen und vorläufig eingezogen. Erst vor wenigen Tagen ist Wirths Enkel in Bischofswerda geboren worden. Das wollte nicht der Zufall. Dr. Wirth und seine Frau hätten der Tochter zugeredet, für die Geburt und eine noch nicht feststehende Zeit danach nach Hause zu kommen, damit sie helfen können. Es ist schön, den Opa beim Gedanken an familiären Zusammenhalt zufrieden zu sehen. Am frühen Tod des Sohnes trägt er nämlich immer noch schwer, das ist kaum zu verbergen.

Frau Wirth hat im Wintergarten mit Kamin den Tisch gedeckt für die Gäste, sogar Kuchen gebacken. Schön sitzt es sich hier mit Blick ins Grüne hinterm Haus. Das findet Dr. Wirth auch. Heute hätte er das in den 1990er-Jahren angebaute zusätzliche Zimmer aus Glas gern etwas größer und komfortabler. Aber es bleibt, wie es ist. Überkandidelte Ansprüche haben die Wirths nicht, eher ein Wertedenken, das so normal wie nur möglich menschlich wirkt. Er liebe den häuslichen Frieden, die Möglichkeit, zu Hause entspannen und ausgeglichen sein zu können, Schönes zu haben. Schön ist für ihn zum Beispiel, im Radio ein Konzert zu hören. Jetzt mit 75, da er manchmal Probleme beim Hören im Konzertsaal bekomme, verschaffe er sich mit der eigenen Technik mitunter den besseren Hörgenuss. Zu Hause will Dr. Wirth seelisches Gleichgewicht finden. Dort mag er keinen Streit, sagt er. Weder er noch seine Frau, die eine Zeit lang selbst Parlamentarierin war, hätten die politischen Debatten zu Hause fortgesetzt. Jedenfalls gehörte das bei Wirths nicht zum Alltag.

Niemals Streit gesucht

Im Parlament hat Dr. Wirth Streit nicht gescheut. Als sich die Auseinandersetzungen um Ex-OB Andreas Erler zuspitzten, duckte er sich nicht weg. Wirth ergriff das Wort und verlas im Namen seiner SPD-Fraktion, von Linken und BfB im November 2013 die Aufforderung zum Rücktritt: „Um Schaden von der Stadt abzuwenden und einen Neustart in der Verwaltung zu ermöglichen, bitten wir Sie in aller Freundlichkeit und Höflichkeit, dennoch nachdrücklich und alternativlos um einen sofortigen Rücktritt.“ Rückblickend auf dieses herausragende Ereignis in seiner rund zwangzigjährigen Parlamentslaufbahn und in der Stadtgeschichte sagt Dr. Wirth heute, er hätte sich gewünscht, dass der OB selbst erkennt, wann Schluss sein muss.

Streit gesucht hat Dr. Ernst Wirth im Parlament nicht. Er habe gelernt, dass Demokratie auf Kompromissen beruht, er sich nicht jedes Mal aufreiben muss, wenn die anderen die Mehrheit haben und am Ende die Abstimmung so oder so für sich entscheiden. Wenn es darauf ankam, war er da. CDU-Fraktionsvorsitzender Bernd Grüber, der im Stadtrat die offiziellen Worte zum Abschied sprach, beschrieb Dr. Wirth als „engagiert“, „um die Sache bemüht“, „Kompromisslinien aufzeigend.“ Solche Kompromissbereitschaft könne man lernen. Sein Vater war Theologe und kritisch. Im Elternhaus, sagt Wirth, habe er mitbekommen, was man gerade kann und was nicht, „nicht unbedingt, um opportun zu sein, aber um zu überlegen, was wichtig ist“. Schon als er jung war, habe er sich mit Problemen beschäftigt und sich auch in der Familie aufgerafft zu politischen Diskussionen. 1959 machte der Sorbe Wirth am Sorbischen Gymnasium in Bautzen Abitur.

Zeit für Familie, Garten und Musik

Seit 2004 ist Dr. Wirth nicht mehr Arzt. Mit 63 ging er damals in den Vorruhestand. Eine Installation –  Wirths Fachliteratur steht in einem Regal an der Hauswand – erinnert heute noch an den Abschied vom Beruf. Er schaut da immer noch gern hin, aber das Krankenhaus vermisst er nicht. Er hätte damals möglicherweise auch länger gearbeitet, aber erkannt, dass Schluss sein muss. „Ich habe meinen Beruf auf dem Stand der Wissenschaft betrieben, es erforderte die volle Einsatzfähigkeit. Und ich habe mich gefragt, ob ich das noch kann.“ Nachteinsätze und Operationen über Jahrzehnte hätten ihn psychisch und physisch voll gefordert. Behandlungen, die jetzt bevorstehen, seien aber darauf nicht zurückzuführen, sondern „normal für mein Alter“. Dass er auch gern Nephrologe geworden oder in die Forschung gegangen wäre, erzählt Dr. Wirth. Aber dass er in die Chirurgie ging, werden ihm Patienten danken. Er spezialisierte sich zu einem in der Region gefragten Schilddrüsenexperten.

Dem Doktor wird nicht langweilig werden. Er hat seine Familie, seinen Garten, ist im Kirchenmusikverein, im Zeitzeugenverein, im Fronfesteverein, im sorbischen Künstlerverband, im sorbisch-evangelischen Kirchenverein – und nirgendwo untätig. Er verehrt Altbundeskanzler Helmut Schmidt, „der hat nie nutzlose Worte gesagt“ und schätzt Baselitz. „Es ist ein Stück Heimat, wenn man sich mit Baselitz beschäftigt“, sagt Wirth. Als Thomas Kern, der Neffe des deutschlandweit gefeierten Künstlers, kürzlich in Bischofswerda ausstellte, leitete der Doktor ein Galeriegespräch. Traurig fand er, dass zu wenige kamen und kaum Junge. Im Hinterkopf habe er ein Projekt, wie man das ändern könnte.