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Warum ein Lehrer aus Augsburg alles über die DDR-Leichtathletik weiß

Karl Fetschele bezeichnet sich als "Wessi". Doch der Neu-Meißner findet nichts spannender als die Athleten, Trainer und Rekorde der Leichtathletik in der DDR. Seine erste Ost-Bekanntschaft: eine Leichtathletin aus Dresden.

Von Lucy Krille
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"Überall ist DDR-Leichtathletik" schreibt Sportstatistiker Karl Fetschele in seinem Buch. Das trifft auch auf ihn selbst zu: Bilder von Athleten und Trainern, sowie zahlreiche Bücher zum Thema schmücken seine Wohnung.
"Überall ist DDR-Leichtathletik" schreibt Sportstatistiker Karl Fetschele in seinem Buch. Das trifft auch auf ihn selbst zu: Bilder von Athleten und Trainern, sowie zahlreiche Bücher zum Thema schmücken seine Wohnung. © Claudia Hübschmann

Meißen. Die Leichtathletik vergleicht Karl Fetschele gern mit der ersten Liebe. "Denn sie ist hängen geblieben", sagt der Augsburger. Und wie das mit der Liebe so ist, wird man "ein bissel fanatisch". Dass sich Fetschele als Augsburger und selbst bezeichneter Wessi ausgerechnet in die DDR-Leichtathletik verguckte, kann er sich selbst nicht so ganz erklären. Als die Mauer stand, war er nur ein Mal im "Osten", in Berlin. Seine erste "DDR-Bekanntschaft" war eine Leichtathletin aus Dresden.

Seine eigene Leichtathletik-Karriere war eher kurz. Mit seinem Bruder schaute Fetschele die Deutschen Meisterschaften im heimischen Wohnzimmer und versuchte alles nachzumachen. Als Elfjähriger trat er 1966 in den Verein ein, rannte, warf und sprang für fünf Jahre, dann machten andere Sachen mehr Spaß. Doch die Faszination für diesen Sport riss nie ab. Heute beschäftigt sich der 68-Jährige bis zu zehn Stunden am Tag mit den Menschen, Trainern und Rekorden der DDR-Leichtathletik.

Auf seinem Laptop hat er ein Dokument angelegt, mit circa 50.000 Datensätzen. Fetschele sammelt Wettkampfergebnisse und Namen von ehemaligen Athleten und Trainerinnen aus Brigadetagebüchern, Archiven oder bei Athletentreffen. Doch nicht nur das: auch der Geburtstag, die Bestleistungen, der Verein, die Verwandten und andere Fakten, über den Sport hinaus, werden recherchiert. "Bei Trainern hab ich viele Lücken", bekennt Fetschele, den das Statistik-Fieber vor etwa 15 Jahren so richtig gepackt hat.

Der "Wessi" kennt sich im Osten besser aus als manch Einheimischer

Ursprünglich hatte sich der pensionierte Englisch- und Französischlehrer auf die DDR-Meisterschaften konzentriert. Doch dann kamen immer mehr Namen und Ergebnisse hinzu, die Fetschele interessiert haben. "Er weiß oft nicht, was er am Vortag gegessen hat, doch er weiß, wer wann welchen DDR-Rekord verbessert hat", erzählt seine Lebensgefährtin Sabine Gombar.

Sie lebt im Klipphausener Ortsteil Ullendorf und hat den Augsburger übers Internet kennengelernt. Nach einer anfänglichen Fernbeziehung zog Fetschele nach Meißen. Seit vier Jahren lebt er nun in der Stadt und fühlt sich wohl. "Ich kenne mich mittlerweile sehr gut hier aus", sagt er. Manchmal sogar besser als manch Einheimische.

So wollte ihm seine Lebensgefährtin bei einer Überland-Tour Garsebach zeigen. "Ist das da, wo der Ernst Schmidt her ist?", fragte Fetschele. Der Leichtathlet war einer der erfolgreichsten der DDR in deren Anfangsjahren. "Wir hatten dann gegoogelt, es stimmte natürlich", sagt seine Freundin und lacht.

Ein Buch über DDR-Leichtathletik mit Geschichten aus Sachsen

Geschichten wie diese hat Fetschele nun in einem Buch aufgeschrieben. Die Auswahl der Kapitel war nicht einfach, denn auf seinem Computer liegt mittlerweile ein ganzes Lexikon der DDR-Leichtathletikgeschichte. Fetschele hat sich auf die kuriosesten Geschichten seiner Recherchen beschränkt, auf unbekannte Talente und auf Beispiele aus der Region, wie etwa Löbau, Riesa oder Meißen.

Der Titel "Überall ist DDR-Leichtathletik" spiegelt seine Einstellung. Egal ob auf dem Friedhof oder im Urlaub: Fetschele findet immer ein interessantes Detail über eine Person, was er dann gleich in seine Daten aufnimmt. Auch Wiedersehenstreffen sind eine Goldgrube für den 68-Jährigen.

Wenn er etwa bei den früheren Werfern bei einem Treffen in Neubrandenburg als einziger "Wessi" auftaucht, wird er natürlich erstmal kritisch beäugt. Doch wenn er ihnen erzählt, wer von ihnen wann welchen Rekord geworfen hat, ist das Eis gebrochen. Der Augsburger ist nicht der einzige Sportfan, der jeden Namen und jede Zahl wie einen Schwamm aufsaugt. Jedes Jahr trifft er sich mit Kollegen der "Deutschen Gesellschaft für Leichtathletik-Dokumentation". Dieses Jahr kamen sie auf Initiative von Gombar und Fetschele das erste Mal nach Meißen.

"DDR-Leichtathletik war mehr als Doping"

Die etwa 100 Mitglieder haben alle ihr Spezialgebiet. Manche konzentrieren sich auf eine bestimmte Sportart, andere auf eine Zeitspanne. Dass die Geschichte des DDR-Sports mit staatlich gelenkten Dopingfällen auch ihre Schattenseiten hat, ist Fetschele bewusst, doch er fügt hinzu: "Auch anderswo wurde gedopt, aber nicht so staatlich, sondern eher durch Trainer und Institute gelenkt." Seiner Meinung nach war DDR-Sport nicht nur Doping.

Vielmehr betont er, wie sehr Gesamtdeutschland nach der Wiedervereinigung von der DDR profitiert hat. Athletinnen wie die Weitspringerin Heike Drechsler holten Erfolge, die durch Trainer aus der DDR herausgekitzelt wurden. "Die hatten die bessere Einstellung, brannten für den Sport und waren nicht so versaut vom Kapitalismus", sagt Fetschele. Als das letzte Erbe der DDR erloschen war, ging es auch mit der deutschen Leichtathletik bergab, erklärt er. Heute sind deutsche Erfolge rar. Vielleicht kommt deshalb auch Fetscheles Leidenschaft für das Vergangene? Auf jeden Fall ist sie hängen geblieben, die vergangene Liebe.

  • Das Heft "Überall ist DDR-Leichtathletik" kann für 15 Euro bei [email protected] bestellt werden.