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Es gab viel mehr Bergsteiger im Widerstand

Joachim Schindler erweitert sein Buch über die Kletterer im Nazi-Reich. Nicht nur in dieser Zeit entdeckt der Historiker Überraschendes.

Von Jochen Mayer
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Joachim Schindler stand auf allen Gipfeln der Sächsischen Schweiz. Er ist immer noch regelmäßig im Elbsandstein unterwegs, hier im Herbst auf dem Großen Bärenstein.
Joachim Schindler stand auf allen Gipfeln der Sächsischen Schweiz. Er ist immer noch regelmäßig im Elbsandstein unterwegs, hier im Herbst auf dem Großen Bärenstein. © Jochen Mayer

Dresden. Das Staunen hört nicht auf. Joachim Schindler liebt die Überraschungen aus der Bergsteiger-Welt, die er beim Stöbern und Sichten in alten Bänden, Heften, Briefen oder Tagebüchern findet. Der Historiker verschaffte sich im Sommer sogar nachträgliche Lektionen zu eigenen einstigen Berg-Abenteuern. Da saß der Dresdner im Corona-Sommer tagelang auf dem Balkon und tauchte ab in die wilde Bergwelt des Kaukasus. Drei Prachtbände von je rund 700 Seiten mit rund 1.000 Fotos machten die Zeitreise möglich. Sie waren vor mehr als 100 Jahren erschienen. Dokumente-Sammler Schindler hatte die Werke des Ungarn Moritz von Dechy in einem kleinen Antiquariat gefunden.

Der inzwischen vergessene Naturforscher und Alpinist beschrieb einst detailreich seine Erlebnisse in einer Region, in der 1970 auch Schindler geklettert war. Als junger Nachwuchsmann war er mit der DDR-Nationalmannschaft Alpinistik im Kaukasus unterwegs. „Damals wussten wir, dass Oscar Schuster mit Gefährten Anfang des Jahrhunderts schon mal da war, und dachten, wir sind die zweiten oder dritten“, erzählt er. „Aber dass dieser von Dechy schon um 1880 dort sieben jeweils gut zweimonatige Expeditionen leitete, das hat mich sehr überrascht.“

Die DDR-Alpinisten wurden vom Hohnsteiner Volker Krause geführt und fühlten sich als Entdecker. „Wir waren ja nicht auf markierten Wegen unterwegs“, sagt Schindler. Aber er relativiert das beim Vergleich mit von Dechy. „Die mussten gut 100 Jahre vorher ja erst mal hinkommen per Eisenbahn oder Schiff. Und die Ausrüstung war nicht vergleichbar mit unserer oder gar der heutigen. Zudem gab es unkalkulierbare Machtverhältnisse in den Bergregionen. Sie brauchten immer die Unterstützung des Gouverneurs. Jede Expedition wurde von einem bewaffneten Kosaken begleitet. Ich kann mich da reindenken, erlebe das fast körperlich mit, wie sie ins Ungewisse vorstießen.“

Ein Dutzend Veröffentlichungen

Schindler gerät ins Schwärmen darüber, wie furchtlos die frühen Entdecker waren. Ein neues Buch-Projekt wird Moritz von Dechy jetzt aber nicht. „Das ist alles schon wunderbar aufgeschrieben von ihm“, sagt der Autor von inzwischen einem Dutzend Buchveröffentlichungen. „Das muss nicht alles wiederholt werden, sollte aber vielen zugänglich sein. Das Wissen über diese Zeit ist wichtig. Für mich war es ein Türöffner zum tieferen Verständnis, was die nächsten Generationen im Kaukasus geleistet haben. Die Dresdner Walter Fischer, Oscar Schuster und Gustav Kufahl beschrieben längst nicht so opulent die Lebensweise, Kultur, Geologie, Botanik wie der Forschungsreisende von Dechy. Den späteren Alpinisten waren ihre Bergerlebnisse wichtig, weniger das Leben vor Ort und welche Völkerschaften in den fernen, wilden Tälern lebten.“

In einem Innsbrucker Archiv fand Schindler den originalen Lichtbildervortrag von Dr. Gustav Kuhfahl über dessen Kaukasus-Erlebnisse. „Es ist interessant, was ihnen damals wert war aufzuschreiben und was man heute daraus lesen kann“, sagt der Historiker. Allein die Ausrüstung war spektakulär. Alpinist und Fotograf Kuhfahl listete mehr als 22 Kilogramm für seine Fotoausrüstung auf mit all den Platten, Stativen und Kameras, die in einem Weidenkorb transportiert wurden. Der Wert soll nach heutigen Maßstäben rund 10.000 Euro betragen haben. „Kuhfahl war ja damals einer der wenigen, der sich diese Mühen machte, zu dokumentieren, was in den fernen Bergwelten passierte“, sagt Schindler.

Diese alpinen Taten wurden in Dresden präsentiert. Es gab eine rege Vortragsszene. „Einheimische traten auf – aber auch berühmte Himalaja-Forscher aus Amerika oder Skandinavien-Reisende“, weiß Schindler. „Es gab zudem einen regen Austausch mit Bergsteigern aus den Alpenländern, Sachsen kletterten in den Alpen.“ Nicht alle schrieben ihre Erlebnisse auf, und längst nicht alle Belege sind gesichtet oder archiviert. Schindler hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, „dass die vielen Namenlosen nicht vergessen werden und es ein Gefühl dafür gibt, welche Traditionen und Grundlagen wir haben“.

Joachim Schindler, Bergsteiger und Historiker, sagt: "Das Verhalten der großen Masse der von Natur aus aufmüpfigen Bergsteiger-Gemeinschaft in der Nazi-Diktatur hat öffentlich noch nie eine große Rolle gespielt."
Joachim Schindler, Bergsteiger und Historiker, sagt: "Das Verhalten der großen Masse der von Natur aus aufmüpfigen Bergsteiger-Gemeinschaft in der Nazi-Diktatur hat öffentlich noch nie eine große Rolle gespielt." © Jochen Mayer

Dabei stieß der 74-Jährige auch auf Widersprüche, einseitige Sichtweisen, Übertreibungen, Legenden, blinde Flecke. „Der Erkenntnisstand ändert sich, je mehr Material man sichtet“, weiß er und plädiert dafür „toleranter, ausgewogener, weniger rechthaberisch miteinander umzugehen. Als ich noch ein aktiver Kletterer war, da sah ich manches auch anders als heute.“

Seine Entdeckungen und neuen Erkenntnisse macht Schindler öffentlich. So überarbeitete er sein vor zwölf Jahren erschienenes Buch über die „Roten Bergsteiger – Ihre Spuren in der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge“. Im Dezember sollte es in Pirna präsentiert werden im Alternativen Kultur- und Bildungszentrum. Der Verein musste die Lesung wegen den Corona-Schutzmaßnahmen zwar absagen, doch der Termin gilt nur als vertagt. Schließlich waren die Vereinsmitglieder an der Entstehung der Neufassung des Buches beteiligt.

2008 hatte es mit einem ganztägigen Seminar auf dem Rauenstein begonnen, weitere thematische Wochenend-Wanderungen auf den Spuren des Widerstandes gegen die Naziherrschaft folgten. Der Autor ist beeindruckt, welche Resonanz das historische Thema bei den jungen Leuten fand. Inzwischen sind die thematischen Wanderungen etabliert, Gäste aus ganz Deutschland waren zuletzt angemeldet.

Schindler hatte sich zum Beginn der Zusammenarbeit erneut intensiv mit dem Widerstand der Bergsteiger in der Nazi-Herrschaft beschäftigt. Er wollte beim Seminar gut vorbereitet sein. Seit 1980 führten ihn seine historischen Forschungen zu Zeitzeugen, er sprach mit vielen, entdeckte neue Dokumente und Geschichten. „Der Enthusiasmus der jungen Leute an den einstigen Ereignissen und Schicksalen hat mich angestachelt, alles Neue noch einmal zusammenzufassen“, erklärt er die zweite Auflage seines Buches.

Das wuchs um ein gutes Drittel. Dabei will er nicht die „Roten Bergsteiger“ demontieren. Die waren 1967 zum Titel einer 13-teiligen Serie des DDR-Fernsehens geworden und zum Synonym für den Widerstand im Hitler-Reich.

Widerständler waren nicht nur Rote

Die Naturfreunde-Opposition war ein Teil des Widerstandes, sagt Schindler. Es habe aber viel mehr widerständiges Verhalten gegeben – von Touristenvereinen, den bergsportlichen Vereinen, den Alpenvereins-Sektionen, dem Sächsischen Bergsteigerbund, von Arbeitersamaritern oder scheinbar gänzlich unpolitischen Bergsteigern.

„Das Verhalten der großen Masse der von Natur aus aufmüpfigen Bergsteiger-Gemeinschaft in der Nazi-Diktatur hat öffentlich noch nie eine große Rolle gespielt“, fand Schindler heraus. „Der Widerstand gegen die Nazis war viel breiter als bisher publiziert, nicht alle sahen sich als Rote. Widerstand gab es auch aus anderen Gesellschaftskreisen.“ Die dramatischen Konsequenzen sind in vielen Lebensgeschichten dokumentiert: Zuchthaus, KZ, Strafbataillon, Todesstrafen bis hin zu Denunziationen in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Schindler ging vielen Schicksalen und Lebensgeschichten nach und fand dabei vielfältige Dimensionen des Alltags im Hitler-Deutschland. Da gab es Verrat, Tücke und die skrupellosen Helfer eines unmenschlichen Systems. Da gab es aber auch Zusammenhalt und Freundschaft, Solidarität und Unterstützung unter Bergfreunden, die zum Beispiel ignorierten, dass es Juden nach 1940 verboten war, die Stadt zu verlassen und klettern zu gehen.

„Da gibt es ganz selten ein klares Schwarz-Weiß, meist ist das Leben ungemein vielfältig und widersprüchlich“, weiß Schindler und verweist darauf, dass es neben den Kommunisten auch Trotzkisten, Sozialdemokraten, Christen, Gewerkschafter, Naturfreunde, Humanisten oder Politik-Ignoranten unter den Bergsteigern gab, die sich gegen menschenunwürdige Zustände unter den Nazis wehrten.

Diese Zeit ist Geschichte, die Lehren sind aktuell. Schindler weiß, dass längst nicht alles bekannt ist, was einst passierte. So haben seine jungen Leute inzwischen zur weiteren Recherche gut 20 Namen von ihm bekommen, deren Schicksale noch wenig bekannt sind und die sich im Hitler-Widerstand womöglich hervorgetan hatten.

„Ich möchte die Geschichtsschreibung nicht unbedingt korrigieren“, sagt er. „Ich versuche, sie mit neuen Gedanken und neuen Lebensläufen zu bereichern. Ich habe große Hochachtung vor denen, die sich unter Todesgefahren wehrten. Dabei stütze ich mich auf Quellen, um der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen.“ Er hofft auf weitere Entdeckungen.

Joachim Schindler: „Rote Bergsteiger. Ihre Spuren in der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge“. Alternatives Kultur- und Bildungszentrum e. V., 144 Seiten, zahlreiche Fotos und Karten, 10 Euro. Bestellung: www.akubiz.de