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Süchtig nach alten Sorten

Ob „Reichskanzler“, „Blauer Schwede“ oder „Bamberger Hörnchen“. Ulrich Gündel und sein Sohn Swen aus Reichenbach sammeln historische Kartoffelsorten. Und beleben damit neue Geschmackserlebnisse.

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Von Jörg Marschner (Text) und Thomas Kretschel (Fotos)

So gut haben’s Reporter selten, dass sie gleich zum Essen eingeladen werden. Serviert wird im weiß getünchten einstigen Kuhstall, der jetzt „Gündels Kulturstall“ heißt. Um 1863 wurde er gebaut, Platz für knapp zwei Dutzend Milchkühe; oben an der Decke läuft noch die eiserne Schiene für die Mistbahn, die draußen auf der Sonnenseite endete, wo jetzt eine Terrasse zum weiten Blick vom Bauernhof in Reichenbach über das Vogtland lädt. Die Schüssel mit den gedünsteten Kartoffeln dampft vor sich hin, der Quarkdip verbreitet seinen Kräuterduft.

Ob gelb, ob rot, ob braun: Die ganze Vielfalt der Kartoffel gibt’s bei Gündels.
Ob gelb, ob rot, ob braun: Die ganze Vielfalt der Kartoffel gibt’s bei Gündels.

„Nehmen Sie zuerst diese hier, das ist eine Vitelotte“, sagt Ulrich Gündel. Der gemütliche Reichenbacher mit dem über der Stirn schon etwas schütteren Haar zeigt auf eine ovale schwärzliche Knolle mit tiefen Augen. Pelle ab, Schnitt und Überraschung: Die Vitelotte zeigt sich innen durchgehend kräftigviolett und damit für den normalen Kartoffelesser durchaus gewöhnungsbedürftig. Das gilt auch für den Geschmack: sehr intensiv, viel kartoffelliger als üblich. „Manche meinen sogar, sie schmecke erdig“, sagt Ulrich Gündel. „Ist eben was für Liebhaber.“ Die Sorte dürfte an die 200 Jahre alt sein und sei vermutlich eine Kreuzung von Ursorten in Bolivien und Peru, erklärt er. Die Vitelotte bringe wenig Ertrag, ihr Preis sei deshalb ziemlich hoch, bis zu vier Euro das Kilogramm.

„Und jetzt die.“ Gündel meint eine kleine, längliche, zapfenförmige Knolle mit heller Schale. „Das sind Bamberger Hörnchen, die Favoriten unserer Gäste.“ Die Sorte ist auch schon über 150 Jahre alt und beinahe ausgestorben. „Die ist nämlich nichts für industrielle Anbau- und Erntemethoden.“ So erzählt Gündel Geschichten über jede der fünf alten Kartoffelsorten beim Test-Essen. Würde er darum gebeten, könnte er glatt ohne Pause über 90 verschiedene Sorten reden, so viele werden in den nächsten Tagen in die Erde gebracht. Der 52-Jährige ist nämlich, wie er selbst mit lachenden blauen Augen sagt, „süchtig nach alten Sorten“. Seit er einmal damit angefangen hat, kann er nicht aufhören. Und sein zwei Jahre jüngerer Studienfreund Gerald Tomat meint: „Ein bisschen ist das wie Briefmarkensammeln. Wenn man von einer seltenen Marke hört, will man die unbedingt haben.“

Die Leidenschaft, die süchtig macht, kam bei beiden vor etwa zehn Jahren auf. Da fühlten sich Gündel und Tomat, die in den 80er-Jahren gemeinsam Landwirtschaft in Halle studiert hatten, einigermaßen am Ziel mit Familie, Haus und Beruf – der eine mit viel Verantwortung in einer Agrargenossenschaft, der andere im Züchtervertrieb der Baywa. Beide hatten nun des Gefühl, man könne, ja man sollte was Neues angehen, wobei sie sich an etwas Altes erinnerten – an ihre Studentenzeit und den Bauernclub. Dorthin kamen hin und wieder Dozenten vom Kartoffellehrstuhl, um die Studenten bei Verkostungen die sagenhafte Geschmacksvielfalt verschiedener Kartoffelsorten erleben zu lassen. Die Gruppe „Ackerfolk“, zu der auch Gündel und Tomat gehörten, spielte dazu die passende Weltmusik. Das waren Zeiten, dachten die beiden Vogtländer, und hatten damit auch schon die Idee: Alte Kartoffelsorten anbauen und sie mit Kultur unter die Leute bringen.

Die zwei Hektar Acker für den Anbau waren kein Problem. Schließlich hatte Ulrich Gündel genug Land an die Agrargenossenschaft verpachtet. Schwieriger war’s mit den Sorten. Wo bekommt man den „Reichskanzler“ oder den „Duke of York“ und wo die „Schwarze Ungarin“ oder „Herrmanns Blaue“? Natürlich bei den Genbanken. Beispielsweise in Groß Lüsewitz bei Rostock, wo sie einige Sorten erhalten konnten. Auch am Uni-Institut im ungarischen Keszthely sprachen sie vor und waren erfolgreich. Ebenso in Teneriffa, wo sie bei Bauern amerikanische Ursorten erwarben, die vor etwa 500 Jahren auf die Kanaren kamen.

Die Vogtländer nahmen auch Kontakt nach St. Petersburg auf, zum weltweit größten Bewahrer alter Kartoffelsorten. Dort gibt es eine riesige Kartoffel-Datenbank „Von dem Institut geht ja die Legende, dass seine Mitarbeiter während der dreijährigen Blockade durch die Nazi-Wehrmacht lieber hungerten, als nur eine ihrer alten Sorten zu essen“, sagt Ulrich Gündel. Hin und wieder tauscht er mit anderen Liebhabern historischer Sorten nach dem Motto „Gibst du mir das, geb ich dir das“. Voriges Jahr kam ein Kunde, der hatte sich aus Peru acht sehr alte Sorten mitgebracht und gab sie den Gündels zur Vermehrung in Pension. So wächst der Bestand jedes Jahr.

Mal bekommen die Reichenbacher eine ordentliche Menge Pflanzgut, mal sind es nur zwei, drei Knollen, größere werden halbiert, damit mehr da ist zum Auslegen. Vier, fünf Jahre dauert es, ehe die Ernte verkauft werden kann, und das sind oft auch nur paar Hundert Kilogramm. „Nicht die Masse macht’s, sondern die Vielfalt“, sagt Gündel. Gut die Hälfte der 90 Sorten baut er nur an, um sie überhaupt zu erhalten für sich und die Nachwelt. „Die sind ja ein Kulturgut, die kriegt man nicht gleich wieder.“ Kartoffelbauer ist Gündel aber genau genommen nur im Nebenjob. Chef vom Ganzen ist sein Sohn Swen, ein freundlicher junger Mann mit großen blauen Augen, der gerne lacht. Als er vor sechs Jahren seinen Berufsabschluss als Landwirt in der Hand hielt, sagte er: „Also, Vater, ich würde das übernehmen und richtig machen.“ Der Vater fand das gut, und so machte sich Swen mit 20 selbstständig.

Gerade hat er wenig Zeit. Er kommt kaum nach mit dem Packen von Paketen: Online-Bestellungen. „Das Geschäft mit dem Internet wächst“, sagt Swen Gündel, nur mit einem Hofladen würde es nicht funktionieren. Die Pakete gehen vorwiegend an Hobbygärtner, die sie für den Garten brauchen. Nur zwei Sorten sind noch im Angebot, alle anderen sind längst ausverkauft. Wenn Swen Gündel mit dem Packen fertig ist, will er im ehemaligen Wasserwerk der Stadt Mylau nach dem Rechten schauen. Wie in einem Keller lagern dort die alten Knollen, ganz natürlich, ohne Gase oder andere Zusatzstoffe, fein sortiert in Boxen, alle versehen mit einem Namensschildchen. Das ist auch nötig; zwar können die Gündels die meisten Sorten nach ihrem Äußeren einwandfrei bestimmen, manche aber sehen sich zu ähnlich.

Während die EU-Kommission neue, umstrittene Regeln für die Zulassung und Kontrolle von Saatgut plant, erleben alte Sorten, bei Kartoffeln ebenso wie etwa bei Tomaten, schon seit einigen Jahren eine Renaissance. Das hat auch mit der Organisation „Slow Food“ zu tun, die seit 2006 die „Kartoffel des Jahres“ kürt. Meist ging die Krone an eine Sorte mit einer Vergangenheit von hundert Jahren und mehr. Das war so beim Start mit dem „Blauen Schweden“, und es ist dieses Jahr so beim „Rosa Tannenzapfen“, der schon vor 150 Jahren in England angebaut wurde.

„Den esse ich auch gern“, sagt Ulrich Gündel, „das ist ’ne ganz feine Kartoffel, gelbes Fleisch, würziger Geschmack.“ Das ist schon was anderes als die modernen Knollen, die fast nach gar nichts schmecken und zudem als Folge der Überdüngung im Inneren oft etwas wässrig, dafür aber recht billig sind. Ganz ohne chemischen Dünger geht es auch in Reichenbach nicht. „Aber wir machen das sehr kontrolliert“, rechtfertigt Ulrich Gündel. Gerade beim Stickstoff seien sie sparsam, gäben nur die Hälfte der Menge, die nach den jährlichen Bodenuntersuchungen empfohlen wird. „So erhalten wir das Aroma, und die Kartoffeln werden nicht wässrig.“ Gündels Erträge je Hektar liegen im Schnitt bei 200 Doppelzentnern – die Spitzen im industriellen Anbau kommen aufs Dreifache.

Mit der Leidenschaft, mit der die Gündels die historischen Sorten sammeln, bringen sie ihre Ernte auch unter die Leute. Direkt gegenüber vom Hof legen sie im Mai den Schaugarten an. Jede der 40 Sorten, die sie vermarkten, bekommt eine eigene Zeile und ein großes Schild, das dem Laien alles Wissenswerte verrät. Im Juni, wenn die meisten Sorten blühen und sich jede farbig irgendwie anders entfaltet, wird zum Kartoffelblütenfest geladen. Und im September kann jeder mitmachen bei der Knollenernte. Alles ganz familiär. Den einstigen Kuhstall haben sie zum Kulturstall umgebaut – mit einer Bühne für „Artüffel & Quark“, einer musikalisch-kabarettistischen Wein- und Kartoffelverkostung. 30 solcher Veranstaltungen gibt es im Jahr.

Das Test-Essen neigt sich dem Ende zu. Zum Finale gibt es die „schwarze Ungarin“. Mit der tiefvioletten Schale wird sie ihrem Namen gerecht, innen aber ist sie fast weiß. Und tatsächlich schmeckt sie – wie von Ulrich Gündel angekündigt – leicht cremig. Die teuerste Spezialität allerdings kommt hier nicht auf den Tisch. Was man gut verstehen kann, wenn Ulrich Gündel deren Geschichte erzählt. Die handelt von der französischen Sorte „La Bonnotte“ auf der kleinen Atlantikinsel Noirmoutier. Die Bauern dort pflanzen sie schon im Februar aus, düngen sie lediglich mit Seetang und pflücken schon nach 90 Tagen die nur kirschgroßen Mini-Frühkartoffeln direkt von den Wurzeln. „Ihr Geschmack lässt nicht nur Gourmets das Wasser im Mund zusammenlaufen, sie hat es bei Versteigerungen auch schon auf 500 Euro fürs Kilogramm gebracht“, erzählt Ulrich Gündel. Klar, dass die Vogtländer das probieren mussten – „ohne Seetang und nur für uns, wirklich ein außergewöhnlicher Geschmack, cremig und ganz fein süßlich“.

Swen Gündel kommt derweil vom Wasserwerk Mylau zurück. „Sieht alles gut aus“, sagt er dem Vater. Auf dem Kartoffelacker war er auch schon. „Der wird bald seine acht Grad haben“, meint der junge Chef. Bald kann es sicher losgehen mit dem Kartoffellegen. Zu spät ist es noch nicht. Wie sagt doch ein altes Bauernwort: „Legst du mich im April, komm ich, wann ich will. Legst du mich im Mai, komm ich glei.“