SZ + Leben und Stil
Merken

Diese Gesundheits-Apps gibt es auf Rezept

30 digitale Anwendungen dürfen Ärzte inzwischen verschreiben. Doch auch die Krankenkassen sehen dabei mehrere Probleme.

Von Steffen Klameth
 6 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
In Deutschland gibt es mittlerweile 30 Apps auf Rezept. Die App Somnio soll gegen Schlafstörunge helfen und ist eine von ihnen.
In Deutschland gibt es mittlerweile 30 Apps auf Rezept. Die App Somnio soll gegen Schlafstörunge helfen und ist eine von ihnen. © pexels.com

Wenn der Abend kommt, beginnen die Gedanken zu kreisen. Szenen des Tages schwirren Uta Winter* durch den Kopf. Worte, die ungesagt blieben. Zweifel, ob sie sich in jeder Situation richtig verhalten hat. All das versetzt den ganzen Körper in Unruhe. "Wenn es ganz schlimm kommt, gerate ich in Panik", sagt Winter. Sie ist Anfang 50, alleinerziehende Mutter und leidet unter einer Angststörung.

Ein Dreivierteljahr war sie deswegen schon krankgeschrieben, seitdem ist sie in psychiatrischer Behandlung. Eine Reha und Medikamente halfen ihr, besser mit der Krankheit zurechtzukommen.

Dann hörte sie von einer Kollegin, dass es da auch eine App gebe – auf Rezept. Der Vorteil: Die Krankenkasse übernimmt die Kosten. Und man kann das Online-Programm bequem zu Hause nutzen – ganz so, wie man gerade Zeit hat. "Also habe ich meinen Arzt um ein Rezept gebeten", erzählt Uta Winter. "Der hatte zwar noch nie was davon gehört, stellte mir das Rezept dann aber aus." Sie schickte es online an ihre Kasse, kurz darauf erhielt sie einen Zugangscode. "Alles ganz unkompliziert."

Apps auf Rezept gibt es erst seit Oktober 2020

Dass sich zunächst selbst der Arzt schlaumachen musste, klingt seltsam – ist aber gar nicht so verwunderlich. Normalerweise verschreiben Mediziner ja Medikamente und Behandlungen. Apps auf Rezept gibt es in Deutschland dagegen erst seit Oktober 2020. Und sie tragen offiziell eine andere Bezeichnung: digitale Gesundheitsanwendungen, kurz Diga.

Im Unterschied zu Online-Präventionskursen, für die gesetzlich Versicherte Geld von ihrer Krankenkasse bekommen, geht es bei den Digas um "die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen", wie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erklärt. Die Behörde ist für die Prüfung und Zulassung der Anwendungen zuständig.

Die Bilanz nach gut einem Jahr

Die Bilanz nach einem guten Jahr sieht so aus: Von den 122 Anträgen auf digitale Anwendungen wurden bisher 30 dauerhaft zugelassen. Sieben Anträge wurden abgelehnt, in 61 Fällen machten die Hersteller während der Prüfung von sich aus einen Rückzieher. 24 Anträge befinden sich noch in der Prüfung. Das sogenannte Diga-Verzeichnis auf der Website des Bundesinstituts listet die zugelassenen Apps auf und liefert kurze Steckbriefe.

Welche Anwendungen besonders populär sind, erfährt man hier aus Wettbewerbsgründen allerdings nicht. Die SZ hat deshalb die großen Krankenkassen gefragt. Ergebnis: Gesundheits-Apps werden vor allem für Patienten mit Gelenkerkrankungen, psychischen Problemen und Tinnitus verordnet.

Apps gegen Sprachstörungen, Impotenz und Vaginismus.

Bei der IKK classic, der DAK und der Knappschaft steht die App Vivira an erster Stelle; sie soll bei Hüftarthrose helfen. Versicherte der AOK Plus und der TK nutzen am häufigsten die Tinnitus-App Kalmeda. Auch Somnio (bei Schlafstörungen), Zanadio (bei Adipositas) und M-Sense (bei Migräne) werden öfter nachgefragt. Das Spektrum der Therapien ist damit aber längst nicht ausgeschöpft. Mittlerweile gibt es auch Digas für Sprachstörungen, Impotenz und Vaginismus.

Bei Angststörungen konkurrieren inzwischen gleich mehrere Firmen um die Gunst der Patienten. Uta Winter hat sich für die App Velibra entschieden. Der Hersteller, die Gaia AG aus Hamburg, empfiehlt sie für Patienten mit einer generalisierten Angststörung, einer Panikstörung oder auch einer sozialen Angststörung. "Was mich da genau erwartet, wusste ich allerdings nicht", sagt Frau Winter. Tatsächlich sind die Informationen im Netz eher vage.

Inzwischen ist sie klüger: "Das Programm beginnt mit Dialogen, in denen ich mehr über meine Erkrankung berichten soll. Dann folgt das Training." Das gliedere sich in Hörbeiträge und Lückentexte, die den Nutzer auffordern, sich in bestimmte Situationen hineinzuversetzen – und "einen positiven Ausweg zu finden", wie Frau Winter sagt. Dies kenne sie schon von der Reha, bei der die Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle spielt. Alles in allem aber eine anstrengende Sache, findet sie. "Dafür braucht man Zeit und Ruhe." Deshalb nutze sie die App nur am Wochenende.

Warnung vor Kostenexplosion

Das Beratungsunternehmen Deloitte schätzt, dass im ersten Jahr bundesweit rund 45.000 Diga-Verordnungen ausgestellt wurden. Über die tatsächlichen Nutzerzahlen sagt das allerdings nichts aus. Denn die Apps kann man auch ohne Rezept herunterladen – dann wird man aber spätestens in den Pro-Versionen zur Kasse gebeten.

Die Krankenkassen beobachten das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Einerseits begrüßen sie das neue Behandlungsangebot, andererseits warnen sie unisono vor einer Kostenexplosion zulasten der Beitragszahler. Denn die Hersteller können die Preise während der Erprobung im ersten Jahr selbst bestimmen – und das nutzen sie offenbar weidlich aus.

Die IKK classic nennt eine Preisspanne von 99 bis knapp 750 Euro pro Verordnung, was "nicht in jedem Fall in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen" stehe. Die AOK Plus spricht in manchen Fällen sogar von "Mondpreisen".

Erst wenn die App dauerhaft in das Diga-Verzeichnis aufgenommen wurde, beginnen Preisverhandlungen zwischen dem Anbieter und dem Spitzenverband der Krankenkassen – zu spät, wie die Versicherer monieren. Sie fordern eine Preisgestaltung nach Nutzen und Nutzung.

Datenschutz noch nicht klar geregelt

Um von Anfang an selbst ein Wörtchen beim Preis mitreden zu können, schließen einzelne Kassen zunehmend auch direkte Verträge mit App-Entwicklern ab und bieten die Anwendungen exklusiv ihren Versicherten an. Ein Beispiel ist die App Neolexon, die sowohl AOK-Plus- als auch Knappschaft-Versicherten zur Verfügung steht. Sie soll Kindern und Jugendlichen mit Sprachstörungen helfen. Im offiziellen Diga-Verzeichnis sucht man die App alledings vergeblich.

Kritisch bewerten die Kassen auch das Thema Datenschutz. So sei nicht geregelt, was mit den Daten in einer App passiert, wenn das Start-up von einem anderen Unternehmen, etwa einer Pharmafirma, aufgekauft wird. Bisher dominieren Start-ups den Markt, große Pharmakonzerne stehen aber schon in den Startlöchern. Ganz ähnliche Bedenken hegen viele Ärzte, wie die Stiftung Gesundheit in einer Umfrage ermittelt hat. Knapp die Hälfte der Mediziner äußerte zudem Zweifel an der Wirksamkeit der Digas. Am ehesten sehen sie einen Nutzen bei Tagebuchanwendungen, am wenigsten im psychischen Bereich.

Frau Winter ahnt inzwischen, dass sie das komplette Programm der Velibra-App wahrscheinlich nicht in den geforderten drei Monaten schaffen wird. Aber sie will nicht aufgeben: "Ich muss wohl eine Verlängerung um drei Monate beantragen."

*Name auf Wunsch geändert.