Jeder kann Klavier spielen

Frust am Klavier. So mancher Schüler an diesem Instrument weiß, was das bedeutet. Warum klingt die Melodie abgehackt? Weshalb ist die eine Passage zu laut? Und warum bewegen sich die Finger einfach viel zu langsam über die Tasten? Klavierlehrer können in solch einem Fall helfen. Doch ist jede Beurteilung des Spiels auch immer eine individuelle. Ein Team aus Dresdner Wissenschaftlern verschiedenster Fachgebiete geht aktuell der Frage nach, ob künstliche Intelligenz in diesen Fällen helfen könnte. Denn die Maschine bewertet ganz ohne den Einfluss von Gefühlen. In einem besonderen Online-Konzertabend zeigten sie nun, wie weit die Technik bereits ist.
Die junge Pianistin gibt es an diesem Abend gleich zweimal. Während Inhye Park Stücke von Mendelssohn oder Beethoven auf dem Konzertflügel spielt, musiziert ihr digitaler Zwilling auf der großen Leinwand dahinter mit ihr mit. Jede Bewegung, die sie macht, ahmt ihr Double zeitgleich nach. Obwohl es aussieht wie eine lebendig gewordene Holzgliederpuppe aus dem Kunstunterricht, ist das, was da zu sehen ist, eine kleine Revolution. Die Technik macht aus dem Klavierspiel eine riesige Datensammlung. Aus Bewegungen von Fingern, Händen, Armen und des gesamten Körpers werden Daten, die sich später analysieren lassen. Und mit denen das System lernt. Das Aufzeichnen wird durch Sensoren möglich, die Inhye Park unter anderem in speziellen Handschuhen, einem Stirnband und weiteren Kleidungsstücken trägt.
Das Gefühl musiziert mit
In ihrem gemeinsamen Forschungsprojekt suchen Wissenschaftler der Dresdner Hochschule für Musik und dem Exzellenzcluster „Zentrum für taktiles Internet mit Mensch-Maschine-Interaktion“ (Ceti) der TU Dresden nach neuen Möglichkeiten, wie Musikvermittlung in Zukunft aussehen könnte. Zum Team gehören Forscher der Kommunikationsnetze, der Entwicklungspsychologie, der Neurowissenschaft und der Psychologie des Lehrens und Lernen. Neben einer Umfrage unter Klavierlehrern und ihren Schülern über mögliche digitale Hilfsmittel für das Klavierspiel werden auch objektive Qualitätsaspekte untersucht. Dabei soll die Sensorik-Kleidung helfen.

Karl-Heinz Simon ist Professor für Klavier und Klaviermethodik an der Dresdner Musikhochschule. Im Projekt ist er für den musikalischen und pianistischen Sachverstand zuständig. Die neue Technik reize ihn zwar. „Ich stehe der Digitalisierung des Musikunterrichts allerdings sehr kritisch gegenüber“, sagt er. Im Projekt will er deshalb ausloten, wo die Technologie wirklich sinnvoll eingesetzt werden kann, beispielsweise bei der Ausbildung von Musikpädagogen oder beim Vermeiden von Haltungsfehlern. Denn die Musikerambulanz sei voll von Patienten, die durch das viele Üben am Instrument körperliche Beschwerden bekommen.
Der ganze Mensch, sein Körper und sein Geist, spiegelten sich in dessen Klavierspiel. Objektiv betrachtet habe jeder Ton zwar eine Länge, eine Lautstärke und eine Höhe. „Aber Klavierspiel als Ausdrucksform ist bereits von Anfang an viel mehr als die Aneinanderreihung von richtigen Tönen in der richtigen Lautstärke und Länge.“ Welche Daten sind dann aber für eine Datenerfassung relevant? Ist das Gefühl beim Spiel überhaupt messbar?
Neues nicht nur lesen, sondern erleben
Frank Fitzek kann nicht Klavier spielen. „Aber vielleicht werde ich es in einigen Jahren mithilfe künstlicher Intelligenz erlernen“, erklärt er. Fitzek ist Inhaber der Deutsche Telekom Professur für Kommunikationsnetze an der TU Dresden. Der Elektrotechniker forscht an der Kommunikation der Zukunft, die Daten noch schneller übertragen soll. Das Musikprojekt ist nur eines von vielen, an dem am Ceti gerade gearbeitet wird. Es geht nicht nur darum, ein Instrument zu erlernen. Das taktile Internet, das Datenübertragung annähernd in Echtzeit erlaubt, eröffne laut der Wissenschaftler noch viel mehr Möglichkeiten.
Es verändert die Art, wie der Mensch Dinge lernt. Er wird Dinge nicht mehr nur in Lehrbüchern lesen, sondern sie selbst ausprobieren. Datenhandschuhe oder Datenjacken helfen ihm dabei, Bewegungsmuster korrekt einzustudieren. Fitzek nennt das Demokratisierung. Egal wie alt ein Mensch ist, ob er in der Stadt wohnt oder auf dem Land – alle könnten in Zukunft von dieser neuen Technologie profitieren.

Was bei all dem im Gehirn des Menschen passiert und wie wir im Zusammenspiel mit der Maschine lernen, damit beschäftigen sich im Projekt die beiden Professorinnen und Psychologinnen Shu-Chen Li und Susanne Narciss. Beim Klavierspielen geht es dabei beispielsweise um die Frage, wie eine visuelle Darstellung des Gespielten eventuell beim Üben helfen kann. Das Gehörte kann dadurch viel differenzierter dargestellt werden. Das Übersetzen der Musik in Muster und Formen verlagert die Aufmerksamkeit beim Spielen. Ob das gut ist? Die Forschung soll es zeigen. Shu-Chen Li sieht noch eine andere Einsatzmöglichkeit der Technologie. Gäbe es beispielsweise Feedback über Vibrationen im Klavierhocker, würde das Kindern oder Erwachsenen mit Entwicklungsstörungen beim Klavierlernen helfen.
Karl-Heinz Simon ist sicher: „Ich würde mir wünschen, dass Musikvermittlung eine Mensch-zu-Mensch-Beziehung ist und bleibt.“ Digitale Technologien könnten aber unterstützen und dabei helfen, dass möglichst viele Menschen einen Zugang zur Musik finden. Eine erstklassige Musikausbildung sollte nicht elitären Kreisen vorbehalten sein.