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Trauerfeier in eisiger Kälte

Viele Leser sind dem Aufruf der SZ nach Geschichten aus dem Winter 1978/79 gefolgt. Einige davon werden hier erzählt.

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Auch auf dem Stolpener Marktplatz bleiben nur noch enge Gassen für die Fußgänger. Der Schnee musste abtransportiert werden. Hellmut Fuchs hat auch das festgehalten.
Auch auf dem Stolpener Marktplatz bleiben nur noch enge Gassen für die Fußgänger. Der Schnee musste abtransportiert werden. Hellmut Fuchs hat auch das festgehalten. © Repro: Frank Baldauf

Obwohl Temperaturen von zwölf Grad Wärme herrschten, hatten wir noch einmal 40 Zentner Kohle bestellt. Ich kam von der Arbeit, es war finster und es regnete. Ich half meiner Mutter beim Kohle reinschaffen, mit Eimern mussten die Briketts in den Schuppen befördert werden. Als ich unverhofft in die Wohnung kam, hörte ich schon von weitem laute Hilferufe. Mein Vater war hingefallen.

Von da an ging es abwärts mit ihm. Am 2. Feiertag kam er ins zehn Kilometer entfernte Krankenhaus nach Neustadt. Ich besuchte ihn jeden Tag, es regnete in Strömen. Doch plötzlich ging der Regen in Schnee über, sodass ich Ende Dezember mit meinem Trabi fast im Schnee steckengeblieben bin. Es wurde immer kälter, von plus zehn Grad waren es in der Silvesternacht 20 Grad Minus. Im Hotel Goldner Löwe in Stolpen war Silvesterfeier und Tanz. Meine Mutter und ich saßen beim Fernseher, obwohl uns gar nicht wohl dabei war. 

Plötzlich war der Strom weg, das Licht ging aus, es war überall finster. Man musste eine Kerze anbrennen, wenn man etwas sehen wollte. Das ist kein gutes Zeichen, sagte ich. Das neue Jahr begann mit Sonne, aber auch mit Kälte, Ich musste am 2. Januar mit dem Zug zur Arbeit ins 25 Kilometer entfernte Heidenau, der dortigen Möbelfabrik. Gleich in den Frühstunden kam ein Telefonanruf vom Neustädter Krankenhaus, dass mein Vater am Neujahrstag gestorben ist, am ersten Tag des Jahres 1979. Nun galt es, alle Formalitäten zu erledigen. Abmeldungen, Sterbeurkunde, auf Ämter u. a. Doch anders als in der heutigen Zeit, musste man das alles selbst tun, was mit einigen Strapazen verbunden war.

 Und so fuhren wir gemeinsam mit meinem Bruder und meiner Mutter in die 22 Kilometer entfernte Kreisstadt Sebnitz. Die Straße war frei, obwohl sich der Schnee am Rande meterhoch aufgetürmt hatte. Zuerst ging es aufs Volkspolizeikreisamt. Danach stiefelten wir den schmalen Weg in die Stadt hinunter. Es ging steil bergab und es war nicht geschippt. Wir nehmen meine Mutter in die Mitte und führten sie. Dabei mussten wir aufpassen, dass wir nicht selbst hinfielen. Wir stapften zum Rat der Stadt, dann zur Post, um Telegramme aufzugeben. Wir hatten ja kein Telefon, aber uns nahestehende Verwandte aus Thüringen und aus der BRD, denen wir Bescheid geben mussten, wegen dem Begräbnis. Dann stand uns die Heimfahrt bevor, es wurde bereits finster und kaum ein Auto war auf der Straße zu sehen. Wir mussten höllisch aufpassen, dass da nichts passiert. 

Die kurvenreiche Straße über Rugiswalde hatten wir geschafft. Doch hinter Neustadt mussten wir noch die steile Anhöhe des Karrenberges überwinden, es war große Schneeglätte. Wir kamen ins Rutschen. Ich stieg aus und schob, das Auto rutschte zum Straßenrand. Aber wir hatten es geschafft, mit viel Mühe, Anstrengung, Glück und Erfahrung kamen wir zu Hause an. Am 6. Januar 1979 war die Beerdigung. Die Sonne schien, es war blauer Himmel. Als wir vor der Gaststätte standen, in der wir Mittagessen bestellt hatten, zeigte ein großes Thermometer minus 24 Grad. So bleibt mir der Katastrophenwinter vor 40 Jahren in Erinnerung.

Der Autor Kurt Boehm wohnt in Stolpen.

Tief verschneit waren die Straßen rund um Stolpen, wie das Foto des Stolpener Hellmut Fuchs zeigt. 
Tief verschneit waren die Straßen rund um Stolpen, wie das Foto des Stolpener Hellmut Fuchs zeigt.  © Repro: Frank Baldauf