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Überraschte Weltmeisterin

Pauline Schäfer aus Chemnitz gewinnt Gold am Schwebebalken – dabei hatte sie mit dem Turnen schon aufgehört.

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Von Katja Sturm

Nach vielen Küsschen, unzähligen Umarmungen und einer ersten Party in einer Disco in Montréal fehlten Pauline Schäfer endgültig die Worte. „Was rede ich hier bloß zusammen“, sagte sich die 20-Jährige selbst. Etwas Großes geleistet zu haben, hatte die neue Königin am Schwebebalken noch nicht wirklich realisiert. Es werde sich nichts ändern, meinte sie, als sie gefragt wurde, wie es nun weitergeht. Training, Wettkämpfe und nebenbei die Schule, in der die Sportsoldatin das Abitur nachholen will.

Die Amerikanerin Morgan Hurd (l.), die Silber gewann, und Tabea Alt aus Stuttgart mit Bronze rahmen Pauline Schäfer bei der Siegerehrung ein.
Die Amerikanerin Morgan Hurd (l.), die Silber gewann, und Tabea Alt aus Stuttgart mit Bronze rahmen Pauline Schäfer bei der Siegerehrung ein. © dpa
Die Turnerin aus Chemnitz kann es selbst kaum fassen, dass sie tatsächlich Weltmeisterin ist. Gold am Schwebebalken – eine Sensation.
Die Turnerin aus Chemnitz kann es selbst kaum fassen, dass sie tatsächlich Weltmeisterin ist. Gold am Schwebebalken – eine Sensation. © dpa

Doch im Verlauf des Abends bekommt die neue Weltmeisterin eine Ahnung, was außerdem auf sie zukommt. Mit ihrem überraschenden Erfolg hat sie als erste deutsche Turnerin seit Dörte Thümmler, die 1987 am Stufenbarren gewann, WM-Gold geholt. Und das ausgerechnet am ehemaligen Zittergerät. Plötzlich steht Schäfer im Mittelpunkt, soll Interviews geben. Dabei wirkt sie – anders als die drei Jahre jüngere Ludwigsburgerin Tabea Alt, die mit Bronze den Erfolg aus deutscher Sicht komplettierte – eher schüchtern zurückhaltend und um die richtigen Worte verlegen.

Mit dem Fuß am Kopf kratzen

Auf dem Schwebebalken ist sie dagegen in ihrem Element. Dort, auf dem nur zehn Zentimeter schmalen Steg, bewegt sie sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze. Ihre hohe Flexibilität erlaubt der gebürtigen Saarländerin die schwierigsten Sprünge, macht es ihr möglich, den Oberkörper so weit zurückzubeugen, dass sie sich im Flug mit ihrem Fuß am Kopf kratzen kann. Dass sie nicht sieht, wo sie landet, macht ihr nichts aus. Dieses blinde Vertrauen in das eigene Gefühl hat Schäfer ein Übungsteil ermöglicht, das vor ihr noch keine andere Athletin aufs Gerät gebracht hat: einen Seitwärtssalto mit halber Schraube, der unter ihrem Namen in den internationalen Wertungsvorschriften steht.

Erfunden hat sie ihn allerdings nicht, schaute sich das Element bei einem Trainingslager in Kanada ab, wo andere Athletinnen es vergeblich versuchten. Dabei ist sie kreativ, experimentiert mit Gabriele Frehse, ihrer Trainerin in Chemnitz, gerne an neuen Bewegungsvarianten. Seit fünf Jahren arbeiten die beiden zusammen. Schäfer hatte mit dem Turnen schon aufgehört, sich im Stabhochsprung probiert. Damals war sie 13 und lag mit ihrem Trainer in Saarbrücken über Kreuz.

Doch eine andere Übungsleiterin überzeugte sie, an die Geräte zurückzukehren. Als sie bei der deutschen Junioren-Meisterschaft 2012 vier Medaillen holte, stand die nächste Entscheidung an: der Wechsel an einen Stützpunkt. Und Chemnitz ist gleich gut 550 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort Bierbach. Anfangs unvorstellbar. „Meine Familie bedeutet mir alles.“

Der Umzug nach Sachsen war aber unumgänglich, wollte sie vorankommen. Mittlerweile leben Schäfers ebenfalls turnende Schwester Helene und einer ihrer Brüder in der Stadt. Sie habe einen Teil ihrer Familie eben einfach zu sich geholt, hat sie dazu mal gesagt. Doch anfangs gab es noch eine weitere Schwierigkeit zu überwinden: Schäfer brachte eine Rückwärtsblockade mit, hatte Angst vor den Überschlägen, bei denen man erst mal ins Leere springt. 2013 verpasste sie dadurch die Qualifikation für die Europameisterschaft.

Es war einer dieser Weckrufe, die sie offenbar manchmal auch braucht, auf die sie gerne erst mit Trotz, aber dann zusätzlich motiviert reagiert. Bei der WM vor zwei Jahren in Glasgow gewann sie bereits Bronze am Balken, weil sie bei der Gratwanderung Haltung bewahrte, während andere abstürzten. Wenn Trainerin Frehse nach dem Erfolgsrezept gefragt wird, antwortet sie so einfach wie logisch: „Harte Arbeit.“

Die mit Gold gekrönte Übung ihrer Sportlerin in Montreal verfolgte sie rund 6 000 Kilometer entfernt per Livestream im Auto auf der Rückreise von einem Wettkampf ihrer Nachwuchsturnerinnen. Frehse erzählt vom tränenreichen Telefonat mit ihrer Weltmeisterin: „Pauline hat mit gesagt, ich soll nicht so viel heulen. Aber ihr Sieg ist einfach unglaublich. Wir können es alle noch gar nicht fassen.“

An Urlaub vorerst nicht zu denken

Wie schon bei Olympia 2016 in Rio gehörte Frehse nicht zum Betreuerstab, damals erhielt der Stuttgarter Coach Robert Mai den Vorzug bei der Akkreditierung. Die Medaille aber – Bronze am Stufenbarren – holte Sophie Scheder, die bei Frehse in Chemnitz trainiert. „Dass Gabi nicht dabei war, haben wir zwar diesmal gemeinsam entschieden“, meinte Schäfer nun, „es soll aber nicht zur Regel werden.“

An einen Urlaub mit ihrem Freund, dem Turner Andreas Bretschneider, ist vorerst nicht zu denken, bis zum Jahresende ist der Terminkalender randvoll. Und Schwesterchen Helene will ja unbedingt die Goldmedaille anfassen. Die 16-Jährige wurde voriges Jahr deutsche Jugend-Meisterin. Mit ihr gemeinsam bei Olympia 2024 in Tokio zu starten, ist Pauline Schäfers großer Traum nach dem Titel. (mit sid, SZ/-ler)