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Umzug auf Probe

Görlitz hat Wohnraum, Görlitz hat Platz, um Ideen umzusetzen. Beides kann man beim neuen Probewohnen testen.

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© Nikolai Schmidt

Von Susanne Sodan

Görlitz. Das Projekt hat noch gar nicht begonnen, zwei junge Frauen haben aber schon mal vor dem eigentlichen Startschuss mit einem Görlitz-Test begonnen. Die beiden Künstlerinnen Henriette Aichinger und Juliane Schmidt aus Dresden und Leipzig waren Anfang September eine Zeit lang in Görlitz, aber nicht als Touristen. Die beiden haben mit ihren Kindern in einer Görlitzer Wohnung gewohnt und in einem Görlitzer Atelier gearbeitet. Das Ergebnis ist gerade am Fischmarkt, im Ideenlabor „Neun Görlitz“, zu sehen.

So ungefähr kann man sich das Görlitzer Probewohnen vorstellen, das im Januar in die nächste Runde geht, diesmal mit einem neuen Aspekt: Man kann nicht nur zur Probe wohnen, sondern auch testen, wie es sich in Görlitz arbeiten lässt. Dafür haben sich die bisherigen Partner, die Stadt und der Görlitzer Großvermieter Kommwohnen, drei weitere Partner gesucht, drei Vereine: das Kühlhaus, Kolaboracja und den Wildwuchs-Verein. Sie stellen eine Werkstatt, einen Büroplatz und ein Atelier zur Verfügung. Und Kommwohnen stellt drei Wohnungen, alle in der östlichen Gründerzeitstadt. Insgesamt wird die neue Probewohnenrunde 18 Monate laufen. Jeder Bewerber, ob Einzelperson oder Familie, kann bis zu vier Wochen bleiben. Heißt zusammengerechnet: 54 Bewerber können mit einer Zusage für die neue Runde rechnen. Bezahlen müssen sie nichts. Die Probewohnen-Partner wollen kein Geld, sie wollen Wissen: Das Projekt wird wieder vom Leibnitz-Institut für ökologische Raumentwicklung, das in Görlitz das Interdisziplinäre Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) betreibt, begleitet.

Auf Görlitz aufmerksam machen, Interesse wecken bei potenziellen neuen Bewohnern – das war auch in der Vergangenheit bereits das Ziel vom Probewohnen. Anklang gefunden hatte das Projekt zu einem großen Teil bei älteren Menschen. In der jüngsten Runde war fast die Hälfte der Teilnehmer älter als 60 Jahre. Das sei auch nicht verwunderlich, erklärt Heike Hensel vom Leibnitz-Institut für ökologische Raumentwicklung. Gerade Menschen im Ruhestand sind eher in der Lage, sich aussuchen zu können, wo sie wohnen. Unter anderem, weil sie nicht mehr durch einen Job standortgebunden sind. Aber auch für jüngere Menschen habe sich bei der Mobilität durch die Digitalisierung der Arbeitswelt mittlerweile einiges verändert. Selbstständige sind dadurch weniger stark an einen Standort gebunden, und auch für angestellte Arbeitnehmer ist es in bestimmten Branchen zunehmend möglich, auch von einem anderen Ort als dem Firmenbüro zu arbeiten. Zum Beispiel von Görlitz aus. Gerade für Leutein der Kreativwirtschaft, für Freischaffende, für Gründer habe Görlitz Potenzial, sind sich alle Beteiligten einig. Weil der Wohnungsmarkt nicht so umkämpft ist, wie vielleicht in Berlin oder Dresden. Weil es noch Platz gibt, um Ideen umzusetzen. „In Berlin ist der Markt doch im Grunde dicht“, sagt Hartmut Wilke, Bauamtsleiter von Görlitz. „Wir haben Gebäude, die aktiviert werden können.“

Schwarmstädte wie Berlin mit ihren Vorteilen beim Arbeitsmarkt, Kultur und Freizeit werden auch in Zukunft sicher Zuzugsorte bleiben. „Aber es gibt doch auch Wegzüge aus den Schwarmstädten heraus“, sagt Robert Knippschild, Leiter des IZS. Das habe häufig zu tun mit Stressfaktoren wie zunehmenden Verkehr, Umweltbelastungen, steigendem Mietdruck und im wahrsten Sinne fehlenden Freiräumen. Die Frage, die das IZS nun untersucht: Wie können Mittelstädte – kleinere, aber doch urban geprägte Städte – von dieser Entwicklung profitieren? Welche Standortforderungen haben junge Menschen, um sich für eine solche Mittelstadt zu entscheiden? Bei diesen Fragen sind die Probewohner gefordert. Das IZS möchte diese Punkte in einem größeren Kontext untersuchen, für die Stadt Görlitz geht es ganz konkret um Erkennnisse, die auch in die künftige Stadtentwicklungspolitik einfließen können.

Ein Hintergrund ist dabei auch der Strukturwandel, den das bevorstehende Ende der Braunkohle in der Oberlausitz nötig macht. Die Hoffnung ist, dass die Kreativwirtschaft sich zu einem Standbein in der Oberlausitz entwickeln könnte. Wie wichtig jedenfalls die Arbeit für junge Menschen ist, das hatte schon die Auswertung des vorherigen Probewohnens deutlich gemacht. Knapp die Hälfte der Teilnehmer gab an, dass sie sich ohne Einschränkung vorstellen könnten, nach Görlitz umzuziehen. Eine Zahl, die in der Vergangenheit immer etwas schwierig einzuordnen war. Denn wie viele Menschen tatsächlich durch das Probewohnen nach Görlitz gezogen sind, ist nicht bekannt. Jedenfalls gaben in der jüngsten Auswertung 31 Prozent an, sie könnten sich unter bestimmten Bedingungen einen Umzug nach Görlitz vorstellen. Eine dieser Bedingungen war die Arbeit. Alleine durch Görlitz hangeln müssen sich die Probewohner nicht. Sie werden diesmal während des gesamten Zeitraums eine Betreuungsperson zur Seite haben.

Bewerbungen sind bis 31. Oktober unter stadt-auf-probe.ioer.eu möglich.