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Ein Stich ins Herz der Demokratie

Aufgestachelte Trump-Fans, schockierte Abgeordnete und ein abgewählter US-Präsident, der lange schweigend zusieht. Protokoll eines chaotischen Tages.

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Tausende bestürmen das Kapitol in Washington. Wie es dazu kommen konnte, dass der Mob das gut bewachte höchste Heiligtum der amerikanischen Demokratie stürmen konnte, ist unklar.
Tausende bestürmen das Kapitol in Washington. Wie es dazu kommen konnte, dass der Mob das gut bewachte höchste Heiligtum der amerikanischen Demokratie stürmen konnte, ist unklar. © X90205

Von Juliane Schäuble und Sebastian Leber

Es sind unfassbare Szenen, die sich an diesem Mittwoch in Washington abspielen. Nachdem Zehntausende Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump schon seit dem frühen Morgen dagegen demonstrieren, dass der Kongress den Wahlsieg des Demokraten Joe Biden offiziell bestätigt, eskaliert die Situation am Nachmittag.

Hunderte Demonstranten dringen in das Kapitol ein, in dem gleichzeitig die beiden Kammern des Kongresses gemeinsam tagen. Sie schaffen es bis an die Türen des Saals, in dem die Abgeordneten und Senatoren versammelt sind, verschaffen sich Zugang zu anderen Räumen. Das gesamte Kapitol wird unter Lockdown gestellt, Berichten zufolge wird nicht nur draußen, wo Hunderte auf den Stufen fahnenschwenkend ihren Überraschungs-Coup feiern, sondern auch im Inneren Tränengas eingesetzt. Glastüren bersten, Sicherheitskräfte ziehen ihre Waffen.

Vizepräsident Mike Pence, der die Sitzung leitet, wird aus dem Kapitol in Sicherheit gebracht, anschließend auch die meisten anderen Spitzenpolitiker. Wann es weitergeht, ist offen.

USA, Washington: Menschen nehmen an einer Kundgebung zur Unterstützung des US-Präsidenten Trump teil. Vor der Bestätigung der Ergebnisse der US-Präsidentenwahl hatte Trump erneut seine haltlosen Behauptungen über Betrug bei der Abstimmung bekräftigt.
USA, Washington: Menschen nehmen an einer Kundgebung zur Unterstützung des US-Präsidenten Trump teil. Vor der Bestätigung der Ergebnisse der US-Präsidentenwahl hatte Trump erneut seine haltlosen Behauptungen über Betrug bei der Abstimmung bekräftigt. © Jacquelyn Martin/AP/dpa

Nur einer schweigt lange: Donald Trump. Um 11 Uhr hatte der Republikaner seine Anhänger vor dem Weißen Haus noch so richtig in Wallung gebracht. Bei einer kurzfristig anberaumten Kundgebung behauptete er erneut, die Wahl sei ihm gestohlen worden. In der Nacht zu Mittwoch war seine Niederlage vom 3. November noch weiter zementiert worden, als sich im Bundesstaat Georgia abzeichnete, dass es den beiden demokratischen Kandidaten Raphael Warnock und Jon Ossoff gelingen könnte, in ihren Stichwahlen die beiden noch offenen Senatssitze zu erobern.

Warnocks Triumph wurde noch in der Nacht von US-Sendern ausgerufen, Ossoffs Sieg stand am Mittwochnachmittag fest. Damit übernehmen die Demokraten nach dem Repräsentantenhaus 2018 nun auch den Senat. Damit hat Joe Biden größere Chancen, ehrgeizige Gesetzesvorhaben durchzubringen.

Aber Trump behauptet weiter, auch bei dieser Wahl seien die Republikaner betrogen worden. Seinen Vize Pence hatte er zuvor gedrängt, Biden den Sieg nicht zuzuerkennen. Ansonsten werde ihm das sehr schaden, hatte Trump getönt. Doch der ihm eigentlich so treu ergebene Pence erklärte, ihm diesen letzten Wunsch nicht zu erfüllen. Er hat dazu schlicht nicht die Macht. Die Rolle des Vizepräsidenten bei der traditionellen Sitzung ist eine rein zeremonielle. Die Verfassung gibt ihm keine Macht, versucht Pence zu erklären, „einseitig“ darüber zu entscheiden, „welche Wählerstimmen gezählt werden sollten und welche nicht“. Daran kann auch Trump nichts ändern.

Anhänger von Präsident Donald Trump klettern in Washington auf die Westwand des US-Kapitols.
Anhänger von Präsident Donald Trump klettern in Washington auf die Westwand des US-Kapitols. © Jose Luis Magana/AP/dpa

Stattdessen facht der Präsident eben die Wut seiner Anhänger an. Auf den Straßen ist ein ums andere Mal zu hören, dass die Demokraten ihnen den Sieg geklaut hätten. Das werde man nicht zulassen, heißt es. „Stop the Steal“ steht auf Transparenten und T-Shirts, es erklingt aus Tausenden Kehlen. Stoppt den Diebstahl.

Noch während der Trump-Rede ziehen die wütenden Demonstranten entlang der National Mall zum Kapitol. Gegenprotest ist weit und breit nicht zu sehen, was zunächst entspannend wirkt. Die Bürgermeisterin Washingtons, Muriel Bowser, hatte zuvor aufgefordert, das Zentrum der Hauptstadt an diesem Tag zu meiden.

Um 13 Uhr beginnt die gemeinsame Sitzung im Repräsentantenhaus. Schon nach kurzer Zeit wird die Auszählung unterbrochen, weil einige republikanische Abgeordnete einzelne Ergebnisse in besonders umkämpften Bundesstaaten anzweifeln. Die Senatoren und Abgeordneten sollen darüber getrennt und jeweils höchstens zwei Stunden beraten.

Die US-Kapitol-Polizei versucht, Demonstranten vor den östlichen Türen zur Hausseite des US-Kapitols zurückzuhalten.
Die US-Kapitol-Polizei versucht, Demonstranten vor den östlichen Türen zur Hausseite des US-Kapitols zurückzuhalten. © J. Scott Applewhite/AP/dpa

Dazu kommt es nicht mehr. Als Demonstranten in das Gebäude eindringen, werden die Sitzungen beendet und die Politiker evakuiert die Politiker – nachdem sie aufgefordert worden waren, Gasmasken bereitzuhalten. Noch Stunden später haben die Sicherheitskräfte die Situation nicht unter Kontrolle gebracht.

Bürgermeisterin Bowser verhängt eine Ausgangssperre ab 18 Uhr und fordert die Nationalgarde zur Unterstützung an. Warum die Sicherheitskräfte sich derart überrumpeln ließen, wird eine der vielen Fragen sein, die in den kommenden Tagen und Wochen geklärt werden muss.

Die Proteste waren angekündigt gewesen, dass unter den Demonstranten auch viele gewaltbereite Rechtsextreme sein würden, war bekannt. Und doch konnten sie bis ins Herz der amerikanischen Demokratie vordringen – und die USA vor den Augen der Welt bis aufs Mark blamieren. Vor laufenden Kameras klettern sie die Fassade empor, vor der gerade erst die Aufbauarbeiten für die Tribüne für Bidens Amtseinführung abgeschlossen worden sind.

Die US-Kapitol-Polizei hält Demonstranten mit vorgehaltener Waffe fest.
Die US-Kapitol-Polizei hält Demonstranten mit vorgehaltener Waffe fest. © Andrew Harnik/AP/dpa

Irgendwann muss selbst Trump genug von diesen irren Szenen auf seinen Fernsehern im Weißen Haus gesehen haben, in das er sich nach seiner Rallye zurückgezogen hat – obwohl er seinen Anhängern versprochen hatte, mit ihnen zum Kapitol zu marschieren. In einem ersten dürren Tweet ruft er sie um 14.43 Uhr über Twitter auf, friedlich zu bleiben und die Sicherheitskräfte zu unterstützen. Denn die stünden auf ihrer Seite. Eine halbe Stunde später twittert er dann erneut: „No violence“, keine Gewalt. Die Republikaner seien doch die Partei von „Law and Order“, von Recht und Ordnung. Die randalierenden Trump-Fans vor und in dem Kongress, die zuvor noch mit Schlachtrufen wie „Scheiß-Antifa“ durch die Straßen gezogen sind, könnten diese Aussage nicht klarer widerlegen. Trump bittet darum, die Polizei zu unterstützen. „Sie sind wirklich auf der Seite unseres Landes. Bleibt friedlich!“, schreibt er. Und: „Ich bitte jeden am US-Kapitol, friedlich zu bleiben.“

Was Trump nicht tut: Den Angriff verurteilen. Und er lässt sich viel Zeit für den Appell an seine Anhänger, sich zu zerstreuen. „Ich weiß, wie ihr euch fühlt, aber geht nach Hause“, sagt der Noch-Präsident schließlich in einem Video, das er am späten Nachmittag auf Twitter verbreitet. Gleichzeitig aber schmeichelt er den Demonstranten: „Wir lieben euch, ihr seid sehr besonders.“ Und er behauptet wieder, dass die Wahl „gestohlen“ worden sei.

Mitarbeiter des Senats tragen die Ergebnisse der Abstimmungen der Wahlleute von der Senatskammer in die Kammer des Repräsentantenhauses.
Mitarbeiter des Senats tragen die Ergebnisse der Abstimmungen der Wahlleute von der Senatskammer in die Kammer des Repräsentantenhauses. © Manuel Balce Ceneta/AP/dpa

Schneller und entschieden eindeutiger ist Joe Biden. Der gewählte Präsident fordert die Demonstranten auf, den „Aufruhr“ sofort zu beenden. „Zu dieser Stunde wird unsere Demokratie beispiellos angegriffen.“ Er sei „wirklich schockiert und traurig“, dass unsere Nation an so einem dunklen Moment angekommen ist“. Aber er sagt auch: „Die Szenen des Chaos am Kapitol spiegeln nicht das wahre Amerika wider, stehen nicht für das, wer wir sind.“

Die Unruhen dauern derweil an, am späten Nachmittag teilt eine Sprecherin des Weißen Hauses dann mit, dass Trump die Nationalgarde nach Washington schicke. Später stellt sich heraus, dass es Vizepräsident Pence war, der den Einsatz der Nationalgarde anordnete. Um 16 Uhr werden alle Demonstranten aufgefordert, das Gelände rund um das Kapitol sofort zu räumen. Die lassen sich damit zwar zunächst Zeit. Da aber die meisten nicht aus Washington direkt kommen, kann sich die Lage in der Nacht beruhigen. Die Lage der Nation bleibt dagegen angespannt.

Nach der gewaltsamen Erstürmung des US-Parlamentssitzes hat der Kongress am frühen Donnerstagmorgen (Ortszeit) den Sieg des Demokraten Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl offiziell bestätigt.
Nach der gewaltsamen Erstürmung des US-Parlamentssitzes hat der Kongress am frühen Donnerstagmorgen (Ortszeit) den Sieg des Demokraten Joe Biden bei der Präsidentschaftswahl offiziell bestätigt. © Susan Walsh/AP/dpa

Die Hauptstadt-Polizei teilt später mit, nach der Erstürmung des Kapitols sei in dem Gebäude unter ungeklärten Umständen eine Frau angeschossen worden, sie stirbt später. Es handelt sich um die 35-jährige Ashli Babbitt aus San Diego, 14 Jahre lang diente sie bei der US-Luftwaffe. Sie war Impfgegnerin und Maskenverweigerin, hielt Joe Biden für einen „pädophilen Vergewaltiger“. Der Chef der Polizei in der US-Hauptstadt, Robert Contee, erklärte: „Es wurden heute drei weitere Todesfälle aus der Umgebung des Kapitols gemeldet. Eine erwachsene Frau und zwei erwachsene Männer scheinen an unterschiedlichen medizinischen Notfällen gelitten zu haben, die zu ihrem Tod führten.“ Unklar blieb, um welche Notfälle es sich handelte. Contee sagte weiter, bei den Zusammenstößen seien mindestens 14 Polizisten verletzt worden, zwei davon schwer. Über 50 Menschen seien festgenommen worden.

Manche Demonstranten verhehlen nicht ihre Gewaltbereitschaft – ganz im Gegenteil. „Es ist eine Schande, dass wir nicht das ganze Gebäude niedergebrannt haben“, sagt einer von ihnen. Ein anderer Trump-Anhänger erklärt, man habe das Kapitol gestürmt, „um die Verräter zu hängen“. Wieder ein anderer meint: „Natürlich ist das nicht das, was wir wollen, aber es ist das, was jetzt passieren muss.“

Donald Trump, Präsident der USA, steigt in die Air Force one, um nach Washington zurückzukehren.
Donald Trump, Präsident der USA, steigt in die Air Force one, um nach Washington zurückzukehren. © Patrick Semansky/AP/dpa

Erst am frühen Abend gelingt es der Polizei, die Trump-Anhänger aus dem Kapitol zu vertreiben. Nach stundenlanger Unterbrechung kommen die Senatoren und Abgeordneten wieder zusammen – sichtlich erschüttert, aber auch entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. „Sie haben versucht, unsere Demokratie zu stören. Sie sind gescheitert“, sagt Mehrheitsführer McConnell im Senat.

Der enge Trump-Vertraute Ted Cruz führt die Gruppe der Senatoren an, die die Wahlergebnisse nicht anerkennen. Auch er ist entsetzt und schreibt: „Diejenigen, die das Kapitol stürmen, müssen jetzt aufhören.“ Wer Gewalt ausübe, schade der Sache. Senator Lindsey Graham, normalerweise eisern an Trumps Seite, meint: „Das ist eine nationale Peinlichkeit.“

Am Tag nach dem Kapitol-Sturm läuft dann auch die Suche nach den Tätern. Die allermeisten Eindringlinge konnten das Gebäude verlassen, ohne den herbeigerufenen Sicherheitskräften ihre Personalien vorzeigen zu müssen. Doch es gibt eine Menge Videomaterial, viele Identitäten sind inzwischen bekannt. Viele machten aus ihrer rechtsextremen Gesinnung keinen Hehl und trugen Kleidung, Schilder oder Tätowierungen mit entsprechenden Botschaften. Auch ein Mann mit dem Slogan „Camp Auschwitz“, eine Abwandlung von „Camp David“, schaffte es ins Kapitol. Auf seinem Oberteil steht außerdem „Arbeit macht frei“.

Unter den Eindringlingen in das US-Kapitol am Mittwoch in Washington ist auch Jake Angeli (M), selbst ernannter Schamane und Anhänger des Verschwörungskults QAnon.
Unter den Eindringlingen in das US-Kapitol am Mittwoch in Washington ist auch Jake Angeli (M), selbst ernannter Schamane und Anhänger des Verschwörungskults QAnon. © Manuel Balce Ceneta/AP/dp

Am auffälligsten: ein halbnackter Mann mit Hörnern auf dem Kopf. Es ist Jake Angeli, selbst ernannter Schamane und Anhänger des Verschwörungskults QAnon. Logischer Spitzname: „QAnon Shaman“. Angeli geht davon aus, dass Trump im Weißen Haus gegen eine mächtige Gruppe aus Satanisten, Pädophilen und Juden kämpft. Der 32-Jährige lebt im Bundesstaat Arizona und arbeitet als Gelegenheitsschauspieler. Am Mittwoch gelangte er im Kapitol in den Tagungssaal des Senats und posierte dort mit seinem mitgebrachten Speer.

Unter Verschwörungsgläubigen im Messenger-Dienst Telegram sind die Reaktionen widersprüchlich: Einerseits wird die Erstürmung bejubelt, die Eindringlinge werden als „Freiheitskämpfer“ gefeiert. Andererseits wird ein neues Verschwörungsmärchen verbreitet: Bei den Beteiligten handle es sich eigentlich um Trump-Gegner, die eingeschleust wurden, um das Trump-Lager in Verruf zu bringen. Das ist leicht widerlegbarer Unsinn, wird sich aber, wie alle Verschwörungsmythen, wohl hartnäckig halten. (mit dpa)