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Vergiftet durch Nowitschok

Am 4. März  jährt sich der Giftanschlag auf den russischen Doppelspion Sergej Skripal und seine Tochter Julia. Ein aktueller Erkenntnisstand.

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Das Haus von Sergej Skripal in Salisbury.
Das Haus von Sergej Skripal in Salisbury. © imago/ITAR-TASS

Von Jochen Wittmann, SZ-Korrespondent in London


4. März 2018, es ist ein nasskalter Sonntagnachmittag in Salisbury. Ein 66-jähriger Mann und eine 33-jährige Frau sitzen bewusstlos auf einer Parkbank vor einem Supermarkt des südenglischen Städtchens. Passanten halten sie zuerst für Drogensüchtige. Ihre Augen sind aufgerissen, aus dem Mund fließt Speichel, der Mann hält seine Handflächen nach oben und schaukelt leicht vor und zurück. Schnell treffen Rettungswagen und Polizei ein. Als Polizeimeisterin Tracey Holloway den Namen der angeblichen Junkies googelt, beginnen die Alarmglocken zu schrillen. Holloway wurde klar, „dass es etwas Größeres sein könnte.“

Denn bei den zwei Betroffenen handelt es sich um Sergej Skripal und seine Tochter Julia. Der Russe ist ein ehemaliger Doppelspion, der sowohl für den russischen Militärgeheimdienst GRU als auch für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 gearbeitet hatte. 2010 siedelte er sich nach einem Gefangenenaustausch in Großbritannien an. Die Ärzte im Krankenhaus können keine äußere Verletzung feststellen und vermuten eine Vergiftung „durch eine unbekannte Substanz“. Schnell stellt sich heraus: Das Gift ist Nowitschok, ein in der Sowjetunion in den 80er Jahren hergestellter Nervenkampfstoff.

Der Vorfall weckt unangenehme Erinnerungen in Großbritannien. Denn die Parallelen zum Fall Alexander Litwinenko sind offensichtlich. Vor zwölf Jahren war der russische Ex-Agent, der im britischen Asyl lebte, ermordet worden. Er hatte sich mit zwei ehemaligen russischen Kollegen im November 2006 zum Tee in einem Londoner Hotel getroffen. Der Tee war mit dem radioaktiven Isotop Polonium 210 versetzt. Litwinenko starb einen langen qualvollen Tod, als ihn das Polonium über die nächsten drei Wochen von innen verstrahlte. Noch auf seinem Totenbett hatte Litwinenko den russischen Präsidenten Wladimir Putin für seine Ermordung verantwortlich gemacht. Eine gerichtliche Untersuchung des Falles bestätigte ihn. Sie kam zu dem Schluss, dass der Anschlag vom russischen Staat sanktioniert war und wahrscheinlich auf Anweisung von Putin erfolgte.

Nun also Litwinenko 2.0? Die letzten Zweifel der britischen Regierung, wenn es denn welche gegeben hatte, sind ausgeräumt, nachdem die Identität des Gifts festgestellt wurde. Premierministerin Theresa May beschuldigte im Unterhaus Russland offen der Tat und wies 23 russische Diplomaten aus. Die Affäre Skripal wuchs sich schnell zu einer weltweiten diplomatischen Krise aus. Bis Ende März 2018 wurden von 28 Ländern und Organisationen in einer globalen Solidaritätsaktion mehr als 150 russische Diplomaten nach Hause geschickt. Es war, stellte die BBC fest, „die größte Ausweisung von russischen Spionen in der Geschichte.“

Der russische Staat bestritt von Anfang an energisch jede Komplizenschaft und antwortete mit einer Desinformationskampagne gigantischen Ausmaßes. Sei es das russische Außenministerium, der Botschafter in London oder die Staatsmedien Sputnik und Russia Today: Eine Flut von unterschiedlichen Theorien und Narrativen zur alternativen Erklärung des Vorgangs sollte die bündige britische Sichtweise, dass Russland hinter dem Anschlag steckt, überschwemmen. Es ginge um eine Hexenjagd, hieß es, das Nowitschok hätte von einer ganzen Reihe anderer Staaten stammen können, britische Geheimdienstler hätte die Skripals vergiftet, und vieles andere mehr machte die Runde. Das Londoner King‘s College hat die russische Medienkampagne analysiert und 75 unterschiedliche Theorien allein bei Russia Today und Sputnik gezählt. „Sie haben versucht, Verwirrung und Unsicherheit durch ein weites Spektrum von widersprüchlichen Narrativen zu stiften“, kommentierte der Autor der Studie Dr. Gordon Ramsay. In dieser Hinsicht ist die Skripal-Affäre eine Paradebeispiel für Desinformationskampagnen, wie sie Russland auch schon im Fall Litwinenko oder beim Abschuss des Airliners MH17 über der Ukraine eingesetzt hatte.

Ruslan Boschirow (links) und Alexander Petrow.
Ruslan Boschirow (links) und Alexander Petrow. © imago/ITAR-TASS

Im September 2018 kann Großbritannien die Täter mit Namen nennen: Alexander Petrow und Ruslan Boschirow. Die Polizei konnte das Bewegungsprofil der beiden Verdächtigen mit Hilfe der Aufzeichnungen von Überwachungskameras ziemlich lückenlos erfassen. Die beiden flogen kurz vorm Anschlag in London ein, reisten zur Ausspähung nach Salisbury und tags darauf noch einmal, um das Nervengift an die Klinke der Haustür der Skripals zu schmieren. In ihrem Hotelzimmer wurden Spuren von Nowitschok gefunden. Die britische Rechercheplattform Bellingcat bestätigte kurz darauf in Zusammenarbeit mit dem russischen Portal Insider, dass die beiden Agenten des GRU sind. Ein dritter Tatverdächtiger namens Denis Sergejew, ebenfalls GRU, wurde vor wenigen Wochen identifiziert. Alle drei sind von der Bildfläche verschwunden, und oppositionelle Kommentatoren in Russland spekulieren, ob sie vom Geheimdienst beiseite geschafft wurden. Nach wie vor streitet die russische Staatsmacht prinzipielle jede Beteiligung ab.

Die Skripals selbst sind heute an einem geheimen Ort und wollen keinen Kontakt zur russischen Botschaft. Die „Sunday Times“ meldete unter Verweis auf eine anonyme Quelle, dass es Sergej Skripal wieder schlechter gehen soll. Der Anschlag kostete einer unbeteiligteren Engländerin das Leben. Dawn Sturgess fand den Nowitschok-Behälter, eine Parfüm-Flasche, und starb, nachdem sie sich etwas davon auf den Unterarm sprühte. Salisbury ist soeben für giftfrei erklärt worden, nachdem Skripals Haus und elf weitere Orte dekontaminiert werden konnten. Für Empörung sorgte kürzlich, dass an der Kathedrale von Salisbury eine riesige russische Flagge gehisst wurde. Anders als bei der Skripal-Affäre weiß man nicht, wer dahinter steckt.