Merken

Vom Großeinsatz in die Rente

Nach fast 40 Jahren im Dienst der Polizei verabschiedet sich Einsatzleiter Bernd Pätzold in den Ruhestand. Der 60-Jährige war an vielen Brennpunkten.

Teilen
Folgen

Von Alexander Schneider

Bernd Pätzold geht zum letzten Mal als Polizeibeamter die Stufen der Polizeidirektion hinunter. Der Freitag ist sein letzter Arbeitstag „auf der Schießgasse“. Wie alle Dresdner nennt auch er das Hauptquartier im Zentrum nur mit seinem Straßennamen. Ab sofort ist der 60-jährige Polizeidirektor Pensionär.

Anfang November 1975 erklomm Pätzold zum ersten Mal die Treppenstufen auf der Schießgasse. Nach einer Lehre zum Industriekaufmann und drei Jahren Armee heuerte er als Polizeihauptwachtmeister im Volkspolizei-Kreisamt Dresden an. Vielleicht wird sich der große Mann mit der hohen Stirn, der so gerne lächelt, heute daran erinnern, wenn er das Haus verlässt. Damals hatten ihn der Dienst in Uniform und die Aussicht auf ein Studium in den Staatsdienst gelockt. Beides hat er bekommen.

Heute verliert die Dresdner Polizei einen erfahrenen Führungsmann, der es mit seiner freundlichen und offenen Art wie nur wenige andere versteht, Ruhe, Gelassenheit und gute Stimmung auszustrahlen, wenn erhitzte Gemüter aufeinandertreffen. Mehr als 20 Jahre leitete Pätzold das Referat „Einsatz“. Dort befindet sich der Stab, der alle Großereignisse in der Landeshauptstadt plant und absichert – vom Marathon bis zum Staatsbesuch, von der Kirchenweihe bis zur Demo. Das Fußballspiel Dynamo Dresden–St. Pauli am vergangenen Sonntag war Pätzolds letzter Großeinsatz. Mehr als 700 Beamte sicherten die brisante Begegnung ab. Am Stadion kam es zu keinen Störungen. Man hätte es nicht besser planen können, dem Pensionär einen passenden Abgang zu verschaffen.

Wie bei allen Einsätzen, die Pätzold führte, lief er am Sonntag sein Gebiet ab, sprach mit Untergebenen, mit Fans aus Dresden und Hamburg, wünschte allen einen schönen Nachmittag. Ein Wachmann fragt, was zu tun sei, Busse aus Hamburg kämen eher als erwartet. „Dann lasst sie eher ins Stadion, die wollen doch nicht warten“, antwortet der Chef.

„Man muss nur mit den Leuten reden“ ist einer von Pätzolds Lieblingssätzen. Es sei ihm wichtig, die Stimmung zu erfassen. Das hat er erst am 12. Februar so gemacht, als Nazis durch die Stadt marschierten und sich ihnen Hunderte Gegendemonstranten entgegenstellten – sich einen persönlichen Eindruck verschaffen, mit den Menschen reden, gegenseitige Erwartungen regeln. Viele Konflikte lassen sich allein mit einem kurzen Gespräch aus der Welt schaffen. Nach den Fußballausschreitungen beim Derby zwischen Dynamo und dem DSC im September 2002, als Dutzende Chaoten Polizisten massiv angegriffen hatten, war es Pätzold, der ein Fußballspiel von Fans mit einem Polizei-Team organisierte. Deeskalation einmal anders.

Pätzold ist Dresdner. Seine Eltern wohnten in der Bernhardstraße gleich hinter dem Hauptbahnhof. Sie überlebten die Bombardierung durch einen glücklichen Zufall. Sie hatten in jener Nacht bei ihren Nachbarn im Keller gesessen. Ihr eigenes Haus bekam einen Volltreffer. Klein Bernd, der einige Jahre nach dem Krieg auf die Welt kam, wuchs zunächst in der Radebeuler Gartenlaube von Verwandten auf. Auch dank des Glücks seiner Familie ist der 13. Februar für den Polizisten, dessen Dienst seit Jahren von Großeinsätzen am Jahrestag der Bombardierung fremdbestimmt wird, ein besonderer: „Man kann doch nicht alten Menschen, die an der Frauenkirche gedenken, die Kerzen zertrampeln und sie als Nazis beschimpfen.“

Auch jenseits des Gedenkens hat der Einsatzleiter in seiner Laufbahn viele brenzlige Situationen erlebt, meist bei Demonstrationen oder Streiks. Situationen, die nicht vorhersehbar sind, aber ganz erheblich vom eigenen Verhalten und Auftreten beeinflusst werden können, sind für den Polizisten das Salz in der Suppe. „Es gibt keine gesetzliche Regelung, wie ein Arbeitskampf abzulaufen hat“, sagt er. Es hänge davon ab, wie die gegnerischen Parteien miteinander umgehen. Das hat er etwa 2008 in Leppersdorf erlebt, als Landwirte eine Molkerei blockierten. Pätzold war damals für fünf Jahre als Chef der Inspektion Zentrale Dienste in die Polizeidirektion Görlitz abkommandiert und auch dort stets dabei, wenn es ruppig wurde. Milchbauern und Molkerei-Vertreter hatten penibel darauf geachtet, mit wem die Ordnungshüter wie lange sprechen und wie weit der Protest gehen durfte. „Man muss als Polizei auch mal einen Schritt zurückgehen“, sagt Pätzold. 2010 war er wieder zurück in Dresden – und leitete gleich zwei größere Evakuierungseinsätze in Löbtau und der Südvorstadt, wo Blindgänger entschärft werden mussten. Die Bomben, so scheint es, lassen ihn nicht los,

Auf seine Zeit in Ostsachsen geht auch ein anderes einschneidendes Erlebnis zurück, das zum Alltag vieler Polizistenleben gehört. Pätzold saß in einem Zug nach Görlitz, von dem sich ein Mann hatte überrollen lassen. Als einziger Uniformierter vor Ort, hatte er die sterblichen Überreste des Suizidenten unter dem Zug festgestellt. Die schrecklichen Bilder kehrten Jahre später zurück. „Ich hatte es in meinem Dienst schon mit einigen Toten zu tun. Aber plötzlich saßen sie nachts auf meiner Bettkante“, sagt Pätzold. Die Dämonen raubten ihm den Schlaf. Pätzold ging zu seinem Hausarzt. Der riet ihmfreizunehmen, aber nicht daheim herumzusitzen. So wurde der Beamte zum leidenschaftlichen Wanderer. Pätzold schnürte seinen Rucksack und machte lange Touren. Abends kehrte er zurück, als wäre er „auf der Schießgasse“ gewesen.

„Das hat geklappt“, sagt der Schutzpolizist. Beim Wandern habe er den Kopf freibekommen und die Oberhand über sein Leben zurückgewonnen. Pätzold geht auch mit diesen Erfahrungen offen um. Nicht jeder schafft es, traumatische Erlebnisse so zu verarbeiten. Mancher trinkt oder wird aggressiv. Wenn Pätzold jetzt zum Wandern loszieht, steckt ein iPad mit digitalen Landkarten in seinem Rucksack.

Wandern wird er als Pensionär auf jeden Fall öfter. Doch auch die Familie fordert ihn nun mehr. Bernd Pätzold hat zwei erwachsene Kinder und vier Enkel. Seine Frau freut sich auf ein neues Bücherregal im Lesezimmer. Sie hofft auch, dass sich ihr Polizeidirektor a. D. nun endlich ihrer renovierungsbedürftigen Küche annimmt.