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Von wegen Abendland

Was Christen, Muslime und Patrioten aus der jüdischen Geschichte lernen können: Anmerkungen eines Rabbiners zum dritten Jahrestag von Pegida - ein Meinungsbeitrag von Rabbiner Walter Homolka.

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© dpa

Von Walter Homolka

Wir alle halten uns für recht tolerant – oder? In dem Moment jedoch, wenn wir auf den „Anderen“ treffen, den „Fremden“, wird es doch ziemlich mühsam. Der Fremde ist heute unser Nachbar und eine Übereinstimmung in grundsätzlichen Werten nicht länger selbstverständlich. Im Gegenteil: Glaubens-, Werte- und Gesinnungsfragen müssen immer wieder neu erörtert werden. Doch nicht jeder ist dazu bereit, sich infrage zu stellen. Seit den Kundgebungen von Pegida & Co. liegt ein Makel bleiern auf Dresden, einer Stadt, die gerne als weltoffen wahrgenommen wird und von dieser Weltoffenheit auch lange profitiert hat. Aber: Zu Dresden gehört auch das andere. Vielen Bürgern ist es ein Anliegen, angesichts des dritten Jahrestags der Pegida-Ansammlungen deutlich zu machen: Wir können Pluralismus aushalten.

Rabbiner Walter Homolka
Rabbiner Walter Homolka

Europa, wie wir es heute kennen, ist das Ergebnis einer langen Entwicklung von Pluralisierung. In der Reformation wurde die eine allumfassende christliche Kirche durch zwei Kirchen ersetzt. Der Westfälische Frieden von 1648 beendete einerseits die Religionskriege in Europa, erwies sich andererseits aber als problematisch. Der zuerst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 eingeführte Grundsatz cuius regio, eius religio – wessen Land, dessen Religion – begründet nämlich nicht den modernen säkularen demokratischen Staat, sondern den konfessionellen absolutistischen Staat. Pluralismus wird beseitigt, Homogenisierung erzwungen.

Schon die Vertreibung der spanischen Juden und Muslime unter Isabella der Katholischen 1492 hatte eine lange Periode des Zusammenlebens von Christen, Muslimen und Juden beendet. Religiösen Minderheiten, die sich auf dem falschen konfessionellen Territorium wiederfanden, wurde das „Recht“ gewährt, auszuwandern. Auch den Hugenotten: Die Evangelisch-Reformierten Gemeinden in Leipzig und Dresden erinnern bis heute daran. Diese Homogenität von Religion und Territorium ist die Basis für einen Mythos, der auch heute noch für die Sicherung der innersten Werte Europas bemüht wird: das „christliche Abendland“.

Napoleon war es, der mit dem 1803 erzwungenen Reichsdeputationshauptschluss das Heilige Römische Reich Deut-scher Nation zu Grabe getragen hatte. Damals wurde eine Säkularisierung in Gang gesetzt, die die Kirchen fast ihrer ganzen weltlichen Macht beraubte. Am diesem Tiefpunkt des politischen Einflusses von Religion wurde durch Novalis und Schlegel ein Konzept geboren: das „christliche Abendland“. Das, was die Romantiker in diese Idee hineinprojiziert hatten, war da von der Französischen Revolution und von Napoleon bereits hinweggefegt worden.

Das „christliche Abendland“ ist ein romantischer Begriff nostalgischer Rückschau. Es brachte Friedrich Wilhelm IV. von Preußen auf seine Idee vom „christlichen Staat“, in dem Juden keinerlei Autorität über christliche Untertanen ausüben konnten: nicht als Beamte, nicht als Offiziere, nicht als ordentliche Professoren an preußischen Universitäten. Das „christliche Abendland“ taugt also nicht als Referenzrahmen für eine moderne Gesellschaft, die durch eine Vielstimmigkeit religiöser Positionen bereichert wird.

Erst das Ende von Thron und Altar 1918 markierte einen epochalen Umschwung hin zur ideologischen Neutralität des Staates und zur Gleichstellung aller Religionen. Das war der Ansatz für ein ganz anderes Gesellschaftsmodell, in dem Staat und Religionen miteinander zusammenwirken, um eine tolerante, vielstimmige Gesellschaft zu schaffen. Ihm war zunächst eine kurze Wirkmacht vergönnt, weil die Liberalität der Weimarer Republik schon 1933 durch die Diktatur der Nationalsozialisten abgelöst wurde.

Die Kirchen boten wenig Gegenwehr. Alle Religionen, auch das Christentum, hatten an den Herausforderungen der Moderne zu kauen, und manches ist bis heute unverdaut. Das Revival der Rede vom „christlichen Abendland“ im 21. Jahrhundert ist dafür ein unzweideutiges Indiz, weil es einen Kunstbegriff romantischer Idealisierung aus dem 19. Jahrhundert in die heutige Diskussion einführt, um die religiöse Homogenität früherer Jahrhunderte zum Vorbild heutigen Zusammenlebens hochzustilisieren.

Für Juden ist die Idee eines „christlichen Abendlands“ sowieso nicht ungefährlich. Jahrhunderte der Verfolgung, Unterdrückung, erzwungenen Wanderschaft und Ausgrenzung im Namen Jesu haben sich eingeprägt in die Erinnerung eines Volkes, das es im „christlichen Abendland“ alles andere als leicht hatte und wenig Toleranz erfuhr. Der offene Dialog zwischen Juden- und Christentum, wie er heute bei uns gepflegt wird, ist das Ergebnis eines langen Prozesses: Es hat trotz der Aufklärung noch das ganze 19. und einen Gutteil des 20. Jahrhunderts gedauert.

Letztlich hat erst das Trauma des Holocaust den nötigen Bruch in den Kirchen mit ihrem Traum von der absoluten Wahrheit herbeigeführt. Aus der Bankrotterklärung christlicher Ethik im Dritten Reich und aus dem Versagen der Kirchen vor der Aufgabe, die jüdischen Brüder und Schwestern wirksam vor der Ermordung zu schützen, ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise ein Ansatz für ein neues Miteinander von Christen und Juden.

Die Aufgabe des absoluten Wahrheitsanspruchs des Christentums war die Basis dafür, dass Platz wurde für das Judentum und Platz sein kann für andere. Man kann also sagen, dass wir Juden in Europa in erheblichem Maße von der Relativierung religiöser Wahrheit profitiert haben. Juden waren von jeher in ihrer Diasporasituation auf die Toleranz anderer angewiesen. Sie haben sie aber auch Andersgläubigen stets gewährt. Deshalb sind wir quasi Spezialisten für Toleranz und auch Indikatoren dafür: Wo es keine Toleranz gibt, sehen wir keine Lebensgrundlage.

Hier stellt sich für mich eine letzte Frage: Kann das Judentum mit seinen Erfahrungen bei der bürgerlichen Gleichstellung im 19. und 20. Jahrhundert dabei behilflich sein, dass Muslime heute ihren Platz in unserer Gesellschaft finden? Ein Blick auf die jüdisch-muslimische Beziehungsgeschichte ist lohnenswert. Die Hohe Pforte am Bosporus gewährte den Juden Freiheiten und Rechte, die für sie im christlichen Europa Juden keineswegs selbstverständlich gewesen waren.

Rabbiner Isaak Zarfati lud 1454 die schikanierten jüdischen Gemeinden des Rheinlands ein, sich im Osmanischen Reich anzusiedeln. 1492 schickte Sultan Bayezid II. sogar Schiffe und nahm viele Juden aus Spanien auf, die vor der Kirche fliehen mussten. Und diese Offenheit und Hilfsbereitschaft setzte sich bis in die jüngere Vergangenheit fort. Kemal Atatürk ermöglichte es durch eine freizügige Einreisepolitik vielen jüdischen Professoren aus Nazideutschland, sich zu retten und an türkischen Universitäten weiterzuarbeiten. Unter den Diplomaten der Türkei fanden sich mehr als siebzehn „Raoul Wallenbergs“, die in Europas dunkelster Zeit mehr als 20 000 Juden vor der Ermordung durch die Nazis retteten. Man kann sagen: In Schlüsselsituationen der europäischen Geschichte wusste das Osmanische Reich als islamisches Land mit dem Sitz des Kalifats diejenigen moralischen Werte zu verteidigen, von denen Europa heute in Anspruch nimmt, die seien signifikant für das „christliche Abendland“.

Vielleicht können wir Juden dem Islam dabei behilflich sein, hier Erfahrungen auszutauschen, wie man der Tradition gerecht wird und dennoch mit den Erfordernissen der Moderne zurechtkommt. Anregend könnte das jüdische Prinzip sein: „Landesrecht bricht Religionsrecht.“ Es geht auf das Babylonische Exil zurück und ist wesentlich für das Verständnis des jüdischen Rechts geworden. Eine solche Relativierungsmöglichkeit der religiösen Anforderungen gegenüber den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Staates sollte sich auch in der Scharia denken lassen, auf ihrem sich windenden Weg hin zur Moderne.

Das Judentum hat es gerade in der Diaspora gelernt, mit Pluralismus umzugehen – innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, aber auch außerhalb. Es setzt sich nicht absolut und erkennt verschiedene Wege zu Gott an. Damit kann es auch ein Partner sein für Christentum und Islam, die sich auf Augenhöhe bewegen: innerhalb eines vielgestaltigen, demokratischen Europa und jenseits der Eintönigkeit und Dumpfheit, die Pegida Existenz nennt.

Unser Autor: Rabbiner Walter Homolka ist Professor für Jüdische Theologie der Universität Potsdam, Rektor des Abraham Geiger Kollegs für Rabbinerausbildung und Vorsitzender der Union progressiver Juden in Deutschland KdöR.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.

(Der Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags im Forum Frauenkirche.)