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Wandel hinter geschlossenen Türen

Im Iran bestimmen die Mullahs nicht nur die Politik. Im Alltag aber suchen Iraner und vor allem Iranerinnen Schlupflöcher in den strengen Lebensregeln.

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© dpa

Von Katja Schlenker

Es wird unruhig im Flugzeug. Gerade hat die Stewardess verkündet, dass der Pilot zum Landeanflug ansetzt. Hier wird noch schnell ein letzter Schluck Wein hinuntergespült, da verschwinden körperbetonte Jeans und ein enges Shirt unter einer luftigen Tunika. Auf vielen Plätzen werden lange Haare zum Dutt hochgebunden und verschwinden unter einem bunten Kopftuch.

Denn wenn der Airbus landet, gelten andere Regeln. Willkommen im Jahr 1394. Willkommen im Land der Mullahs. Willkommen in der Islamischen Republik Iran. Hier gilt die Scharia, das religiöse Gesetz des Islam. Alkohol ist verboten. Der Islam als Staatsreligion vorgeschrieben. Mullahs, wie die Rechts- und Religionsgelehrten genannt werden, sind für die religiöse Erziehung und rituelle Funktionen wie Gebet, Eheschließung oder Begräbnis zuständig. Nebenbei bestimmen sie die gesamte Politik des Landes und die Auswahl der Politiker. Frauen sind nur halb so viel wert wie Männer. Zumindest offiziell.

Die Realität sieht etwas anders aus. Nach inzwischen 37 Jahren in diesem System sind die Iraner Meister im Umgehen der strikten Regeln. Laut Kulturminister Ali Dschannati sind vier Millionen Iraner bei Facebook aktiv, 71 Prozent der Teheraner nutzen Satellitenantennen. Beides ist offiziell verboten, die Portale Facebook und Twitter sind sogar von der Regierung geblockt. Nur über Umwege gelangt man in die sozialen Netzwerke. Und das, obwohl Irans Präsident Hassan Ruhani selbst regelmäßig dort postet. Dennoch schaffen sich die Iraner ihre Freiräume, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Die eigenen Wohnungen sind die Rückzugsorte. Oder die Weite des Landes, dort, wo kein Sittenpolizist hinkommt.

Beim Wandern zum Beispiel. Sobald die Häuser des Dorfes im Tal von Kelardasht hinter der ersten Kurve verschwunden sind, setzt Yasmin* das Kopftuch ab und lässt es in ihrer Hosentasche verschwinden. Immer griffbereit. Dennoch ist es eine befreiende Geste. Nun kommen hochgesteckte schwarze Haare zum Vorschein, die mit einer Spange mit einer roten Blume daran zusammengehalten werden. Yasmin ist eine moderne – und mutige – Frau. Ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit herumzulaufen, kann ihr eine Geldstrafe oder gar eine kurzfristige Verhaftung einbringen. Vor allem streng religiöse konservative Männer stören sich daran.

Seit Präsident Hassan Ruhani vor drei Jahren ins Amt gewählt worden ist, entwickelt sich im Land jedoch zaghaft ein liberalerer Kurs, was die Kleidungsvorschriften für Frauen angeht. Trotz nach wie vor drohender Strafen tragen viele Iranerinnen die Kopftücher mittlerweile leger auf dem Hinterkopf drapiert, vor allem in der Hauptstadt Teheran. Gerade junge Frauen reizen diese kleine neue Freiheit aus. Manchmal lugen darunter lange offene Haare hervor. Und die Tücher leuchten in bunten Farben mit zum Teil schrillen Mustern. Auch bunter Nagellack ist – trotz Verbots – mittlerweile oft an Frauenhänden zu sehen.

Diese Linie bringt Hassan Ruhani jedoch auch die Kritik der Konservativen ein. Als die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani 2014 als erste Frau überhaupt mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde, gratulierte auch der Präsident – mit einem Tweet, der zwei Bilder beinhaltet. Eines zeigt die junge Frau mit und eines ohne Kopftuch. Das löste erneut eine Debatte über die Kleidungsvorschriften aus.

Yasmin legt das Kopftuch dennoch ab. Ihr Mann Mervan* hat kein Problem damit, dass seine Frau so modern ist. Beide sehen im Alltag nicht anders aus als gewöhnliche europäische Pärchen. Der Umgang miteinander ist liebevoll. Oft ist Mervan an Yasmins Seite. Immer wieder finden die Hände der beiden zueinander und halten einander fest. Zärtlichkeiten dieser Art sind im Iran sonst nur in unbeobachteten Momenten möglich.

Mittags wird ein Picknick an einem See eingelegt. Vor dem Essen springen die Männer ins Wasser. Ganz ungeniert nur mit Badehose bekleidet. Die Frauen müssen draußen stehen bleiben und zusehen, wie die Männer sich im kühlen Nass erfrischen. Sie würde auch gerne schwimmen gehen, erzählt Yasmin. Doch das ist nicht erlaubt.

Im Iran gibt es nur einen einzigen Strand, an dem es keine getrennten Sektionen für Männer und Frauen gibt und an dem normale Badekleidung zulässig ist. Allerdings gilt das nicht für Iraner. In Buschehr, im Südwesten des Landes, leben zahlreiche russische Gastarbeiter wegen des dortigen Kernkraftwerkes. Der Strand ohne Regeln ist ein Zugeständnis an sie, damit sie sich im Iran wohlfühlen.

Und selbst wenn es getrennte Abschnitte gibt, dürfen iranische Frauen nur komplett bekleidet ins Wasser. Dabei würde Yasmin auch gerne mal einen Bikini tragen wie die Frauen in Europa. Das aber würde bei den Mullahs wohl Herzrasen verursachen. Sie verbreiten nach wie vor ernsthaft die Ansicht, dass Männer wilde Tiere seien, die ihre Sexualität kaum unter Kontrolle halten könnten, und dass es daher Aufgabe der Frau sei, die Männer nicht zu reizen – etwa durch körperbetonte Kleidung. Auch Rauchen dürfen iranische Frauen nicht. Ob ich rauche, fragt Yasmin mich sehnsüchtig. Tue ich nicht, aber ich dürfte es in Deutschland.

Auf dem Weg nach Isfahan treffen wir in einer Moschee eine junge Frau. Sie heißt Nesrin* und ist im Tschador gekleidet. Das persische Wort bedeutet übersetzt passenderweise Zelt. Denn dabei handelt es sich um ein meist dunkles Tuch, das sich die Frauen wie einen Umhang um den Körper schlingen. Damit soll der Körper bedeckt sein und lediglich das Gesicht frei bleiben.

Die Anzahl der Frauen, die Tschador tragen, ist auch eine Art Stimmungsbarometer in den iranischen Orten. Im bunten und lebhaften Großstadtrubel in Teheran tragen kaum Frauen Tschador. In Qom hingegen fast alle. Hier sind zahlreiche theologische Hochschulen ansässig. Dadurch ist die Stadt von enormer Bedeutung für die schiitische Glaubensrichtung des Islam. Und hier sind die strengen Glaubenswächter der Mullahs stets präsent, um auf die Vorschriften zu pochen. Sie selbst kann sich ein Leben ohne Tschador kaum noch vorstellen, sagt Nesrin. Sie fühle sich erst damit richtig angezogen – und vor den Blicken anderer sicher. Der Tschador als eine Art Schutzumhang.

Die Situation ist besonders für junge Leute nicht einfach. Die meisten sind gut ausgebildet, aber der Iran bietet vielen von ihnen keine Perspektive. Zwei Drittel der rund achtzig Millionen Einwohner sind unter dreißig Jahre alt. Viele sind arbeitslos. Selbst wer ein Studium absolviert, hat kaum bessere Aussichten auf Arbeit. Seit dem Abschluss des Atomabkommens mit dem Westen und einem Ende der jahrelangen schmerzlichen Sanktionen gegen das Land ist nun aber die Hoffnung groß auf neue Jobs. Nicht nur im Tourismus.

Nach der Unterzeichnung des Abkommens stellte Präsident Hassan Ruhani in einer im Fernsehen übertragenen Rede seinen Landsleuten „ein Jahr mit wirtschaftlichem Wohlstand“ in Aussicht – wenn auch nicht ganz ohne Hintergedanken. Denn er und seine Mitstreiter hoffen, bei den Parlamentswahlen im Februar die politische Ernte ihrer Entspannungspolitik einfahren und eine Mehrheit unter den 290 Abgeordneten erringen zu können. Es wäre das vorläufige Ende der Hardliner, die seit zwölf Jahren das Parlament dominieren. Damit wird aber nicht gleich alles gut im Iran. Ein gehöriges Stück Misstrauen im Ausland wird bleiben. Ebenso wie das leidige Problem der Menschenrechte – auch wenn das für die Mehrheit der Iraner selbst derzeit eher ein zweitrangiges Thema ist.

„Das iranische Volk hat in der Zeit des Embargos sehr viel Geduld gezeigt“, sagt Hassan Ruhani und weiß, wovon er spricht. Mindestens 100 Milliarden Dollar aus iranischen Öleinnahmen sind noch im Ausland blockiert, die bald freigegeben werden dürften. Mehr als 1 000 Kreditbriefe liegen bereits fertig ausgestellt bei den Banken, denn das Land hat großen Nachholbedarf. Die längst völlig veraltete Öl- und Gasindustrie hat einen Investitionsrückstau von 50 bis 100 Milliarden Dollar, die Hälfte der rund 20 Millionen Autos im Land ist mehr als 25 Jahre alt. „Wir brauchen praktisch alles“, sagt der Teheraner Wirtschaftsexperte Saeed Laylaz. „Hunderte Flugzeuge, neue Häfen und eine Runderneuerung der gesamten Infrastruktur.“ Und erstmals seit fast zwei Jahrzehnten geben sich jetzt ausländische Investoren in Teheran wieder die Klinke in die Hand: Energiebranche, Autohersteller, Nahrungsmittelfirmen und Pharmakonzerne – alle wollen ins Geschäft kommen. Das verspricht Arbeitsplätze – gerade für gut ausgebildete junge Leute.

Am Abend sind wir zum Essen bei Rezan* eingeladen. Er hat uns den Tag über beim Wandern begleitet. Gemeinsam mit seinen Eltern, seiner Frau und seinen drei Kindern lebt er in einem Haus im Tal von Kelardasht. Das Haus ist an einen Hang gebaut. Steil geht es daneben einen Weg nach oben. Gewohnt wird in der oberen Etage, keiner kann hineinschauen. In der Ecke des Wohnzimmers steht ein alter Röhrenfernseher. Darüber ist der Eiffelturm in Paris an die Wand gemalt.

Nach dem Essen wird das Gerät eingeschaltet. Auf dem Bildschirm erscheint eine junge Frau, die Popsongs trällert. Im Hotel gibt es so etwas nicht zu sehen, denn singen ist für Frauen tabu, vor allem in der Öffentlichkeit. Im Hotel werden nur die staatlichen iranischen Fernsehsender eingespeist, darunter sogar ein englischsprachiger. Meist laufen dort Nachrichten, Dokumentationen oder Diskussionsrunden.

Versteckt hinter den privaten Wänden der fast achtzig Millionen Iraner laufen andere Programme. Sogar ZDF wird hier empfangen, wie Argesh* erzählt, der uns auf der Reise begleitet. So hat er einige Brocken Deutsch gelernt, die er immer wieder an uns ausprobiert. Iraner sind neugierig im positiven Sinne. Unterwegs werden wir immer wieder angesprochen. „Âlmâni?“, lautet oft die Frage, „Deutsche?“.

Da sie weit mehr von der Welt wissen als ihnen die stockkonservativen Kleriker zugestehen wollen, sind sich die meisten Iraner des schlechten Rufs ihres Landes und ihrer Religion durchaus bewusst. An unserem letzten Abend in Shiraz spricht uns ein junger Mann an. Mit einem Moped, seiner Frau und seinem Kind ist er zum Basar unterwegs. Natürlich will auch er wissen, woher wir kommen. Und dann lässt er uns an seinen Problemen teilhaben. Er will wissen, wie sich die Terrormiliz IS auf das Bild auswirkt, das die Menschen anderswo vom Islam bekommen. Und das, obwohl Gespräche über Religion und Politik offiziell tabu sind – vor allem mit Ausländern. Wir sollen ja nicht glauben, dass alle Menschen in islamischen Ländern so seien oder auch nur so denken würden, gibt er uns mit auf den Weg.

Im Iran besteht eine besondere Form der Höflichkeit – Taarof. Das persische Wort bedeutet eigentlich „sich bekannt machen“. Doch man muss Taarof schon richtig verstehen, kennen und anwenden, will man Missverständnisse vermeiden. Taarof bedeutet nämlich nicht nur, einer Frau die Tür aufzuhalten. Es bedeutet auch, wenigstens zweimal höflich abzulehnen, wenn man zum Essen eingeladen wird oder etwas geschenkt bekommt.

Und beim Einkaufen kann es passieren, dass sich der Ladenbesitzer zunächst weigert, den Preis für eine Ware zu nennen. Er sagt dann erst einmal „Ghabeli nadare“, was so viel bedeutet wie „es hat keinen Wert“. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Aber die vermeintliche Floskel ist für den Ladenbesitzer alles andere als nur das. Denn der Kunde ist ihm allemal wichtiger – und mehr wert – als seine Ware. Diese Haltung prägt auch die Gastfreundschaft der Iraner. Auf Europäer wirkt diese schon fast überwältigend, ebenso wie die Offenheit der Gastgeber.

Das Land ist im Wandel. Hinter verschlossenen Türen und im Digitalen findet eine soziale Revolution statt. Und auch die Regierung öffnet sich. Im vorigen Jahr ist mit Marzieh Afkham erstmals seit der Islamischen Revolution von 1979 eine Frau dazu bestimmt worden, eine Botschaft des Iran im Ausland zu leiten. Die bisherige Sprecherin des Außenministeriums ist inzwischen im malaysischen Kuala Lumpur tätig. Ein nächster Schritt. Aus unserer Sicht vielleicht ein kleiner, ja völlig normaler. Für die meisten Iraner aber ein schon fast revolutionärer Vorgang. (mit dpa)

* Die Namen der Personen im Text sind geändert.