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"Zu viel Schmerz": Wie eine Russin aus Bautzen auf den Krieg blickt

Viele Russen in Deutschland haben eine andere Sicht auf den Ukraine-Krieg, auch eine Lehrerin aus Bautzen. Sie ist nicht pro Putin, hält die westliche Perspektive aber für verkürzt.

Von Levin Kubeth
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Russlands Flagge mit Doppeladler. Eine Russin, die in Bautzen lebt, schildert ihre Sicht auf den Ukraine-Krieg.
Russlands Flagge mit Doppeladler. Eine Russin, die in Bautzen lebt, schildert ihre Sicht auf den Ukraine-Krieg. © AP

Bautzen. Die Frau am Pult hebt ihre Hand. Sie sitzt dort mit ihrem strengen Blick, als wäre es eine weitere Unterrichtsstunde an der Volkshochschule in Bautzen. Dort lehrt sie Russisch. Drei Finger reckt sie in die Höhe und tippt jeden einzeln mit der anderen Hand an. "Das ist Russland, das ist Ukraine, das ist Deutschland." Jeder Finger ein Land, zu dem sie eine enge Beziehung hat.

Svetlana Donath kommt aus Taganrog, am östlichen Zipfel des Asowschen Meeres. Die ukrainische Grenze ist näher als die nächste größere Stadt in Russland. In Taganrog sei sie zur Schule gegangen. Schulkameraden seien aus der Ukraine, ihre Tante, ihr Cousin würden dort leben. "In der Sowjetunion war die Grenze egal."

Mit 40 Jahren habe sie Russland verlassen. Die Russen haben damals im Tschetschenienkrieg gekämpft, ihr Sohn sei ihm wehrpflichtigem Alter gewesen. Sie wollte nicht, dass er kämpft. Da seien sie nach Deutschland gekommen.

"Egal welchen ich abschneide", sagt Svetlana Donath und fasst sich an die drei Finger, "es tut weh."

"Meiner Meinung nach haben alle Schuld"

Am ersten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine wollte sie noch nicht sprechen. Sie hatte Corona und ihre Bedingung für das Gespräch war: "Ich möchte Ihnen in die Augen schauen." Eigentlich, sagt sie in Woche drei des russischen Angriffskrieges, wolle sie gar nicht reden. Sie vertraue der Presse nicht. "Aber dann habe ich gedacht: Das ist egoistisch von mir." Die Leute, die hier leben, sagt sie, müssten doch verschiedene Meinungen kennen. Fotografiert werden möchte sie aber nicht.

Ihre Meinung ist nicht klar pro Putin oder pro Westen. Schwarz-Weiß-Denken möge sie nicht, erklärt sie mehrmals. Stattdessen sagt sie: "Meiner Meinung nach haben alle Schuld: Russland, Ukraine, Europa, Deutschland, USA."

Dass Putin den militärischen Angriff gestartet hat, Krankenhäuser, Schulen und Zivilisten bombardiert, das sagt sie nicht. Sie sagt: "Wenn ein Patient Krebs hat und der Arzt fragt, was er gestern gemacht habe, dann ist das ein schlechter Arzt. Denn der Krebs ist vielleicht schon 20 Jahre alt." Und so sei das auch mit Russland und der Ukraine. Ohne die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte könne man den Konflikt nicht verstehen.

Die russische Sprache wird verdrängt

"Wenn mir jemand verbietet, meine Muttersprache zu sprechen und in die Kirche zu gehen, dann suche ich mir Hilfe." Was Donath kritisiert, ist der immer weiter fortschreitende Versuch der Ukraine, die russische Sprache im Land zu verdrängen.

Besonders im Osten der Ukraine spricht die Mehrheit der Einwohnerinnen und Einwohner russisch. Zu Zeiten der Sowjetunion war Russisch die Sprache der Macht, Ukrainisch diejenige der Kolchose, also der einfachen Landbevölkerung. Im Jahr 1989, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte, machte das Land Ukrainisch zur einzigen Staatssprache.

Im August 2012 verabschiedete die Regierung unter dem Russlandfreund Wiktor Janukowytsch ein Sprachengesetz, das die russische Sprache erstmalig aufwertete. Die Folge war eine Schlägerei im Parlament. Nach der Maidan-Revolution 2014 hob das ukrainische Parlament die Regelung auf.

"Das beste Geschenk für Putin"

Kurz vor dem Amtsantritt von Wolodymyr Selenskyj verabschiedete die Noch-Regierung ein Gesetz, das Ukrainisch als Sprache in öffentlichen Einrichtungen vorschreibt. Zudem wurde damit die Quote für ukrainischsprachige Rundfunkprogramme erhöht.

Der Politologe Wladimir Pastuchow nannte das Sprachengesetz damals "das beste Geschenk, das man Putin in fünf Jahren Krieg machen konnte".

Im Februar 2021 ließ Selenskyj prorussische Nachrichtensender in der Ukraine blockieren. Seit Januar 2022 müssen alle überregionalen Zeitungen in der ukrainischen Sprache erscheinen.

Auch Wladimir Putin spricht in seinen Reden das Verdrängen der russischen Sprache an. Kreml-Freunde wie der Verschwörungsideologe Ken Jebsen verbreiten die Falschaussage, die Ukraine verbiete die russische Sprache komplett. So oder so: Die Umstände rechtfertigen keinen Angriffskrieg auf ein Land.

Svetlana Donath sagt an ihrem Pult, die Ukraine hätte das Sprachengesetz zurücknehmen und dafür sorgen müssen, dass es den Menschen gut gehe. "Dann hätte es keinen Krieg gegeben."

Stepan Bandera: Held oder Nazi-Kollaborateur?

Das zweite Problem sieht Donath in Stepan Bandera. Je nachdem, wen man fragt, ist er ein ukrainischer Freiheitskämpfer oder ein Nazi-Kollaborateur. Bandera hatte im zweiten Weltkrieg einen von der Sowjetunion unabhängigen ukrainischen Staat ausgerufen. Deswegen gilt er vielen als Held.

Auf der anderen Seite war er Teil einer Organisation, die 1934 den damaligen polnischen Innenminister ermordete. Unter Banderas Führung arbeitete die Gruppe später mit der deutschen Wehrmacht zusammen. In der Ukraine stehen Dutzende Denkmäler von ihm, Straßen tragen seinen Namen.

Nach seinem Amtsantritt hat Selenskyj – selbst Jude – nicht mit der nationalistischen Geschichtspolitik seines Vorgängers gebrochen. Offenbar fordert auch Russland in den Verhandlungen von der Ukraine, dass Straßen umbenannt werden, die Nazi-Sympathisanten ehren.

Svetlana Donath sagt, Leute, die sich auf Bandera beziehen, seien Nazis.

"Die Nato vertritt die Interessen der USA"

Wenn Putin von der Entnazifizierung der Ukraine spricht, meint er auch die heutigen Anhänger von Stepan Bandera und das ultranationalistische Asow-Regiment, das dem ukrainischen Innenministerium unterstellt ist und im Krieg kämpft. Die Gruppe rekrutiert auch deutsche Rechtsextreme.

"Es tut mir weh, dass Russland es nicht geschafft hat, das Problem ohne Krieg zu lösen", sagt Donath. Wenn sie spricht, sieht man ihr das Leiden an. Sie redet, als spüre sie einen körperlichen Schmerz. Sie lacht im Gespräch nur, wenn es nicht um den Krieg geht.

Deutschland sei nicht unabhängig, sagt sie, genauso wie Frankreich und andere europäische Länder. In Donaths Erzählung liegt das an der Nato. Die sei kein Verteidigungsblock mehr. "Die Nato vertritt die Interessen der USA."

"Blut ist das Ende dieses Landes"

"Die Ukraine hat keine Zukunft mehr", sagt Donath und verweist auf die Anschuldigungen, die auch Russland der Ukraine im umkämpften Donbass macht. "Blut ist das Ende dieses Landes", sagt sie. Russland solle weg von der Ukraine, Europa auch. Die Ukraine solle unabhängig sein – "und das nicht nur auf dem Papier". Aber das sei nur eine Utopie.

"Lassen Sie dieses Land 50 Jahre allein. Lassen Sie die Leute mit blutendem Herzen aussterben", sagt sie. Was sie meint: Erst in einigen Generationen können die Menschen in der Ukraine wieder klar denken. Dann solle es ein Referendum geben.

Wie auch andere Menschen mit Wurzeln in Russland werde sie immer wieder auf den Krieg angesprochen. Sie antworte dann: "Wissen Sie, Putin hat mich nicht angerufen." Von Freunden bekomme sie moralische Unterstützung. "Das schätze ich und das brauche ich jetzt."

Die Welt müsse man mit kaltem Kopf analysieren, sagt Svetlana Donath zum Abschied. "Ich kann das nicht, ich habe zu viel Schmerz."