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„Wir waren im Vorhof der Hölle“

Der Döbelner Unternehmer Sven Weißflog hat mehrere Transporte mit Hilfsgütern in die Ukraine unterstützt. Was er dort erlebt hat.

Von Cathrin Reichelt
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Der Döbelner Unternehmer Sven Weißflog (links) und Heinrich Löwen von der Brüdergemeinde Döbeln haben gemeinsam Hilfsgüter in die Ukraine gebracht.
Der Döbelner Unternehmer Sven Weißflog (links) und Heinrich Löwen von der Brüdergemeinde Döbeln haben gemeinsam Hilfsgüter in die Ukraine gebracht. © privat

Döbeln/Kherson. Die Bilder haben sich ihm eingebrannt. Dreimal hat der Döbelner Unternehmer Sven Weißflog bisher Hilfsgüter in die Ukraine gebracht. Jedes Mal ist er ein Stück tiefer in das Land hineingefahren.

Eine Kirche voller Matratzen, Menschen, die auf dem Boden schlafen. Das waren die ersten Bilder, die Sven Weißflog aus Chernovtsy gesehen hat. Aufgenommen hatten die Fotos Mitglieder des Vereins zur Förderung der Evangeliums-Christen-Brüdergemeinde Döbeln. „Die Brüdergemeinde ist relativ zeitig losgefahren, um zu helfen“, so Weißflog.

Chernovtsy liegt nicht im Kriegsgebiet, aber in der 300.000 Einwohnerstadt seien damals täglich mehrere Züge mit Geflüchteten angekommen, die dann auf der Suche nach einer Unterkunft und Unterstützung umhergeirrt seien.

„Von den Bildern war ich total geflasht“, meint Weißflog. Und für ihn stand fest, dass er die Helfer der Brüdergemeinde auf die nächste Fahrt begleiten wird. Unterstützung habe es dabei auch von der Firma Knobloch gegeben.

Der Transport erfolgte Anfang Mai über Ungarn, Rumänien und die Karpaten – nicht über Polen. Dort herrsche eine hohe Korruption, was den Verlust eines Großteils der Hilfsgüter bedeutet hätte. „Damit das nicht passiert, haben wir die doppelte Zeit und die schlechtere Strecke in Kauf genommen“, so Weißflog.

„Es war wichtig, dass die Dinge dorthin kommen, wo sie gebraucht werden.“ Der Kirchvorsteher in Chernovtsy habe für hunderte Menschen Essen zubereitet. „Die Not war riesengroß.“

In vielen Städten waren Häuser zerschossen. Menschen lebten in Kellern.
In vielen Städten waren Häuser zerschossen. Menschen lebten in Kellern. © privat

Obwohl die Fahrt in die Kriegsregion ein flaues Gefühl im Magen hinterlassen hat, habe für Sven Weißflog schnell festgestanden, dass es nicht die Letzte war: „Ich habe meine Frau überredet, dass wir nach Rumänien in den Urlaub fahren, mit einem Abstecher in die Ukraine, um weitere Spenden abzugeben.“

Eingepackt wurde vor allem Haltbares: Säcke mit Reis, Mehl und Zucker, aber auch Nutella, Fisch- und Fleischbüchsen sowie Butter. Die Metro und große Discounter seien bereit gewesen, den Transport zu unterstützen.

Von großen Zweifeln begleitet

Etwas westlicher als geplant, sei die Familie in die Ukraine hineingefahren – an vielen schwer bewaffneten Sperrposten vorbei. In der Nähe von Mykolajiw habe es an jeder Kreuzung Schießstellungen gegeben. Dass sie nicht besetzt waren, habe die Situation nicht besser gemacht. „Ich habe Jugendliche im Alter meines Sohnes in Armeesachen durch die Stadt laufen sehen. Das hat mir das Herz zerrissen“, sagt Weißflog.

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Die Fahrt sei von großen Zweifeln begleitet worden. Irgendwann habe keine Internetverbindung mehr bestanden und sie seien unsicher gewesen, ob sie sich noch auf dem richtigen Weg befanden. Die Polizei habe sie dann zur Brüdergemeinde in Chernovtsy begleitet.

Seit dem Frühjahr hatte sich dort einiges verändert. Die Hilfsgüter blieben nicht nur vor Ort. Viele wurden weiter ins Kriegsgebiet gebracht. Die Kirchgemeinden hatten sich untereinander vernetzt. „Und mir war klar, dass die nächste Reise nicht in Chernovtsy enden wird“, sagt der Unternehmer.

Die Helfer waren mit mehreren Transportern unterwegs.
Die Helfer waren mit mehreren Transportern unterwegs. © privat
Auf ihrer Fahrt haben sie in Lagern weitere Hilfsgüter zugeladen.
Auf ihrer Fahrt haben sie in Lagern weitere Hilfsgüter zugeladen. © privat
In einem kleinen Zimmer werden die Hilfsgüter kurz gelagert, bevor sie an Bedürftige verteilt werden.
In einem kleinen Zimmer werden die Hilfsgüter kurz gelagert, bevor sie an Bedürftige verteilt werden. © privat

Bei der bisher letzten und längsten Tour war Sven Weißflog Mitte Dezember, sechs Tage lang, wieder mit Mitgliedern der Döbelner Brüdergemeinde unterwegs. Während dieser Zeit legten sie 4.650 Kilometer zurück. Vier Stunden sei die längste Zeit, die er am Stück geschlafen habe, ansonsten seien es etwa zwei gewesen, denn sie mussten vorwärtskommen – so schnell wie möglich. Rückblickend sagt Sven Weißflog: „Wo wir waren, ist der Vorhof der Hölle.“

Die Reise begann bei Minustemperaturen und mit einem Defekt. Die Scheibenheizung war ausgefallen. Davon ließen sich die Helfer jedoch nicht abhalten. Sie legten einen Schlauch durch das Innere des Fahrzeugs, durch den warme Luft an die Frontscheibe geblasen wurde. Über Prag, Bratislava und Budapest fuhren sie in der Nähe von Uschgorod über die ukrainische Grenze und holten sich im nächsten Ort die Stempel für den Transport der Hilfsgüter.

Überladen viel zu schnell unterwegs

Chernovtsy war diesmal nur eine Zwischenstation. „Die Gastfreundschaft dort war unglaublich. Sie stellen alles auf den Tisch, auch wenn sie selbst kaum etwas haben. Man schämt sich, etwas von dem Tisch zu nehmen“, sagt Weißflog. Nachts um 2 Uhr seien drei Fahrzeuge Richtung Kiew gestartet, eins mit Anhänger.

Südlich von Kiew seien sie zu zwei Lagern gefahren, in denen weitere Hilfsgüter eingeladen wurden. „Unser Fahrzeug war von Anfang an komplett überladen. Dann sind wir bei Schnee und Eis durch die Landschaft geheizt“, beschreibt Weißflog den Druck, unter dem die Helfer gestanden haben.

Nach 800 Kilometern ohne Pause seien sie gegen 23 Uhr in Mykolajiw angekommen, um 1.30 Uhr ins Bett gegangen, gegen 5.45 Uhr wieder aufgestanden, hätten noch schnell gefrühstückt und seien los. Zuvor hatten sie noch ein Notstromaggregat ausgeladen – für einen Bäcker, damit er wenigstens Brot backen kann.

Kein Stein mehr auf dem anderen

„Hinter Mykolajiw sind wir abgebogen und durch Dörfer gefahren, in denen kein Stein mehr auf dem anderen war. Die Brücken waren gesprengt“, so Weißflog. Ziel war Kherson. Auch dort kümmert sich die Brüdergemeinde um die Menschen. Bei einem Gottesdienst wurde die Ankunft der Hilfslieferung verkündet. – Ein Zeichen der Hoffnung.

„Während des Gottesdienstes habe ich vorn gesessen und konnte den Menschen in die Gesichter schauen. Da saßen Frauen mit verweinten Augen. Die Mundwinkel der Leute waren tief nach unten gezogen“, beschreibt Sven Weißflog die Situation. Plötzlich habe es draußen gekracht. Die rund 400 Menschen in dem Raum hätten nicht einmal gezuckt. Es sei der tägliche Beschuss gewesen.

Weit mehr als die Hälfte der Einwohner hatte die Stadt bereits verlassen. Diejenigen, die zum Gottesdienst gekommen waren, gehörten nicht alle der Brüdergemeinde an. Aber sie hatten einen Grund: Nach dem Gottesdienst erhielt jeder ein Brot.

Nach einem Gottesdienst haben die Teilnehmer ein Brot erhalten.
Nach einem Gottesdienst haben die Teilnehmer ein Brot erhalten. © privat

Zur Weihnachtspost in Döbeln hatte Sven Weißflog darum gebeten, für die Kinder Geschenke zu packen. Außerdem habe er knapp 200 Firmen um Unterstützung gebeten. Lediglich zwei hätten reagiert. Die BayWa habe fünf Generatoren zur Verfügung gestellt und die Bäckerei Körner Kekse für die Kinder gebacken.

Dagegen hätten sich viele Privatleute engagiert. „Ich war erstaunt über ihre Empathie und wie liebevoll sie die Geschenke arrangiert haben“, so Weißflog. Die Päckchen wurden dann am 26. Dezember nach einem Kindergottesdienst an die Mädchen und Jungen verteilt.

Verminte Straßen, kaputte Häuser

Kherson hat einen besonders intensiven Eindruck bei Sven Weißflog hinterlassen: viele Straßen vermint, zerschossene Häuser, Menschen, die – mit dem Minimalsten ausgestattet – im Keller wohnen, der Flughafen nicht mehr nutzbar, Einschläge auf der Rollbahn, am Rand 20 Flugzeuge und zwei Kampfhubschrauber – alle unbrauchbar.

Umweit einer Straße reihen sich Fahnen und Bilder verstorbener Soldaten auf einem Friedhof aneinander.
Umweit einer Straße reihen sich Fahnen und Bilder verstorbener Soldaten auf einem Friedhof aneinander. © privat

Die Rückfahrt beginnt im Zickzack-Kurs, „weil wir beschossen wurden.“ Ein letzter Stopp auf einem Friedhof. Auf dem reihen sich Fahnen und Bilder gefallener Soldaten aneinander. „Und während wir zwischen den Gräbern stehen, fahren auf der Straße Schützenpanzer vorbei.“