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Drei US-Präsidenten und ihre Lügen über Afghanistan

Autor Craig Whitlock beleuchtet in seinem spannenden Buch Fehler und Fehleinschätzungen aus zwei Jahrzehnten Krieg.

Von Frank Grubitzsch
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Rund um den Afghanistankrieg wurde viel gelogen: Ein Helikopter der Royal Air Force im Februar 2007 auf einem Versorgungsflug im Rahmen einer Operation gegen Stellungen der Taliban.
Rund um den Afghanistankrieg wurde viel gelogen: Ein Helikopter der Royal Air Force im Februar 2007 auf einem Versorgungsflug im Rahmen einer Operation gegen Stellungen der Taliban. © Ministry of Defence/PA Media/dpa

Zuversicht über die Zukunft Afghanistans wollte George W. Bush verbreiten, als er am 17. April 2002 an der Militärakademie in Virginia eine Rede vor 2.000 Kadetten hielt. Die USA, versicherte der Präsident damals unter tosendem Jubel, hätten die Lage unter Kontrolle – sechs Monate, nachdem er den Streitkräften den Befehl gegeben hatte, Afghanistan zu bombardieren und das Terrornetzwerk al-Qaida zu zerschlagen.

Doch schon damals – im April 2002 – verschwieg Bush seinen Landsleuten und der Welt die volle Wahrheit. Denn längst grübelten seine Berater und Militärstrategen darüber, ob sich die USA am Hindukusch nicht doch in eine Sackgasse manövriert haben – ohne klar definierte Ziele und ein Ausstiegsszenario.

George W. Bush (r.), hier 2007 mit Wladimir Putin und Angela Merkel in Heiligendamm, verschwieg seinen Landsleuten und der Welt die volle Wahrheit über den Afghanistan-Einsatz.
George W. Bush (r.), hier 2007 mit Wladimir Putin und Angela Merkel in Heiligendamm, verschwieg seinen Landsleuten und der Welt die volle Wahrheit über den Afghanistan-Einsatz. © sächsische zeitung

Craig Whitlock, Reporter der renommierten Washington Post, zieht in seinem Buch eine Bilanz des Krieges, den die USA im August vergangenen Jahres mit dem Abzug der letzten Soldaten beendet haben. Ganz in der Tradition der Journalisten, die einst den Watergate-Skandal aufgedeckt hatten, beleuchtet Whitlock die Vorgänge jenseits der offiziellen Verlautbarungen. Sein Urteil fällt hart und schonungslos aus: Drei Präsidenten – George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump – haben die amerikanische Öffentlichkeit über den Krieg in Afghanistan belogen.

Zwar hatte der Einsatz mit breitem Rückhalt der Weltgemeinschaft begonnen. Er war die Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 und richtete sich gegen einen Staat, der Osama bin Laden und seinen Helfershelfern Unterschlupf bot. Die anfänglichen Erfolge und die rasche Entmachtung des Taliban-Regimes stärkten die Hoffnung, der Krieg lasse sich zeitlich und personell begrenzen.

"Uns entgleitet die Sache"

Doch das Bild wandelte sich rasch. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld notierte schon im Frühjahr 2002 in einem seiner zahlreichen handschriftlichen Memos, die Mitarbeiter als „Schneeflocken“ bezeichneten, er sei besorgt, dass „uns die Sache entgleitet“. Erhellend sind auch Erklärungen mehrerer Militärs und Diplomaten. „Es gab keinen Plan für den Feldzug. Es gab einfach keinen“, bekannte US-General Dan McNeill. „Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, worauf wir uns eingelassen hatten“, erklärte General Douglas Lute.

Whitlock sucht nach den Ursachen für das Scheitern des Krieges. Er liefert keine Abhandlung über den Verlauf von Kampfhandlungen. Der Journalist zeichnet nach, warum der Einsatz schnell in die falsche Richtung lief. Er hat akribisch recherchiert. Tausende Dokumente gesichtet. Whitlock stützt sich unter anderem auf Tonbandprotokolle von Interviews mit Regierungsmitarbeitern, die die Bundesbehörde SIGAR geführt hatte. Es spricht für sich, dass Whitlock erst Einblick in die Dokumente erhielt, nachdem die Washington Post mit zwei Klagen vor Bundesgerichten erfolgreich war.

Auch Barack Obama nahm es mit der Wahrheit in Sachen Afghanistan-Einsatz nicht so genau.
Auch Barack Obama nahm es mit der Wahrheit in Sachen Afghanistan-Einsatz nicht so genau. © dpa

Die Interviews enthielten schonungslose Lagebeurteilungen – etwa von Mitarbeitern der US-Botschaft in Kabul. Sie beklagen sich darüber, dass die Regierung in Washington Afghanistan nicht verstehe und den Krieg falsch führe. Auch Gespräche, die die US-Armee mit Afghanistan-Veteranen führen ließ, offenbarten eklatante Fehleinschätzungen der Lage.

Whitlock nennt es einen „klassischen Fehler“, auf eine klare Strategie mit konkreten, erreichbaren Zielen zu verzichten. Und das galt nicht nur für die USA selbst, sondern auch für die Verbündeten, die sich am Einsatz beteiligten. Lange vermittelten mehrere Bundesregierungen der Öffentlichkeit den Eindruck, die Bundeswehr sei in Afghanistan auf einer Friedensmission, bohre Brunnen und baue Schulen. Es dauerte Jahre, bis Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg erstmals öffentlich von „kriegsähnlichen Zuständen“ in Afghanistan sprach.

Donald Trump ist in den Augen von Autor Craig Whitlock ebenfalls ein Lügner.
Donald Trump ist in den Augen von Autor Craig Whitlock ebenfalls ein Lügner. © Evan Vucci/AP/dpa (Archiv)

Symptomatisch für unvollständige Lagebilder war eine Äußerung von Bundesaußenminister Heiko Maas vom Juni 2021. Damals wies er Berichte zurück, nach denen die Taliban innerhalb weniger Wochen ganz Afghanistan erobern könnten. Das sei nicht Grundlage seiner Wahrnehmung, ließ er wissen. Welch ein Irrtum! Und selbst noch einen Monat später taxierte US-Präsident Biden die Wahrscheinlichkeit „gegen null“, dass die Taliban das gesamte Land überrennen und die Macht erobern. Das Tempo, mit dem die Regierungsmacht schließlich kollabierte, überraschte am Ende aber doch. So steht Afghanistan heute wieder an dem Punkt, an dem sich das Land vor dem Beginn der US-Luftangriffe im Oktober 2001 befand. Die Taliban haben wieder das Sagen.

Schuld an dem Debakel waren nicht allein die Schwäche der Kabuler Regierung und die korrupte Elite, nicht nur die fehlende Kampfkraft und Motivation der afghanischen Regierungstruppen, nicht nur mangelndes Vertrauen der Menschen in den Demokratie-Import. Zu den entscheidenden Faktoren gehörte auch Unkenntnis über die Verhältnisse in dem Land. Bis zum Ende des Krieges waren die USA nicht in der Lage, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.

Ein bitteres Resümee, für das es noch in den chaotischen Tagen des US-Abzugs im August 2021 eine traurige Bestätigung gab. Bei einem Vergeltungsangriff für einen IS-Anschlag am Flughafen von Kabul kamen ein Mann und sieben Kinder ums Leben. Er war kein Terrorist, sondern Fahrer für eine US-Hilfsorganisation...

  • Craig Whitlock. Die Afghanistan Papers. Econ Verlag, 400 Seiten, 24,99 Euro