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Wenn der Rettungswagen auf der Seite liegt ...

... dann ist etwas Schlimmes passiert. Am Amtsgericht wurde jetzt der Unfall vom 6. Juni 2015 auf der Lidl-Kreuzung in Kamenz verhandelt. Wer war schuld?

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© Archivfoto: Rico Löb

Von Frank Oehl

Kamenz. Was versteht man unter der Verkettung unglücklicher Umstände? Zum Beispiel, wenn ein VW Golf, der Ampel-Grün hat, mit einem Rettungswagen kollidiert, der bei Rot über die Kreuzung will, was er unter bestimmten Umständen nicht nur darf, sondern sogar muss. Dieser Fall war am 6. Juni 2015, einem heißen Tag, in Kamenz eingetreten. Auf der Kreuzung Hohe Straße/Fichtestraße waren ein damals 26-Jähriger Sozialversicherungsfachangestellter und ein 29-Jähriger Rettungsassistent mit ihren Fahrzeugen zusammengestoßen. Mit schlimmen Folgen. Der gelbe RTW – auf der Hohen Straße unterwegs – wurde vom VW, der der Fichtestraße folgen wollte, am linken hinteren Rad getroffen. Das Rettungsfahrzeug wurde nach rechts weggedrückt und landete auf der Seite. Eine 79-Jährige Frau, die aus einem Pflegeheim ins St. Johannes gebracht werden sollte, starb im Krankenhaus. Der Notarzt erlitt schwere Verletzungen, weitere drei Beteiligte leichtere, die trotzdem noch mit teils wochenlangen Krankschreibungen verbunden waren.

Das Amtsgericht Kamenz hatte in dieser Woche das Geschehen auf dem Tisch. Die beiden Fahrer waren der fahrlässigen Tötung der 79-Jährigen angeklagt, was kein Pappenstiel ist. Entsprechend ernst wurde die Wahrheitssuche unter Leitung von Amtsrichter Thomas Kranke genommen. Drei seitenlange Gutachten galt es auszuwerten. Das eine analysierte die gespeicherten Angaben aus dem in Rettungswagen vorgeschriebenen Datenschreiber. Das zweite nahm sich die Bremsspuren, mithin den gesamten Kollisionsverlauf im Detail vor – und das dritte beschäftigte sich mit dem Gesundheitszustand der Rentnerin vor und nach dem Crash. Die schwerstkranke und demente Frau war ordnungsgemäß auf der Krankentrage fixiert gewesen, allerdings der Kopf natürlich nicht geschützt gegen die Wucht des seitlichen Aufpralls des Pkw und des quasi gegenwirkenden Aufschlags auf der Straße. Hirnblutungen waren die Folge. In Absprache mit Angehörigen wurde auf weitergehende lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet. „Unsere Mutter hätte dies nach mehreren Schlaganfällen auch gar nicht mehr gewollt“, sagt die Tochter im Zeugenstand. „Ans Bett gefesselt zu sein, war für sie schon vor dem Unfall die Hölle gewesen.“

Auf die Ampel verlassen

Davon unberührt blieb die Frage nach der Schuld für den Unfall an sich. Beim Aufprall war der Rettungswagen mit 30 bis 35 km/h und der Golf mit 40 bis 42 km/h unterwegs gewesen. Hätten sich die Fahrzeugführer sehen müssen? Und wenn ja, ab wann genau? Welche Reaktionszeiten und Vermeidbarkeitshandlungen wären möglich gewesen? Der VW-Fahrer aus Kamenz gab an, weder ein Blaulicht noch ein Martinshorn wahrgenommen zu haben. Es war heiß, die Klimaanlage lief bei geschlossenen Fenstern nach kurzer Fahrt noch auf Hochtouren, auch das Radio war an. Und die Sicht nach rechts wird durch ein Gebäude verdeckt. „Ich habe mich auf die grüne Ampel verlassen.“ Und der RTW-Fahrer, der das Horn rechtzeitig zum Blaulicht zugeschaltet hatte, musste sich fragen lassen, ob er womöglich doch zu schnell über die Rotampel gefahren war. Vorgeschrieben ist in diesem Fall das „Hineintasten“ in den Kreuzungsbereich – bei ständiger Beobachtung des möglichen Grün-Verkehrs. Das Richter-Fazit: Beide Fahrer hätten durchaus mehr Aufmerksamkeit an den Tag legen müssen, aber die Schwere ihrer persönlichen Schuld reicht für eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nicht aus. Deshalb wurde das Verfahren eingestellt. Die Kosten, auch für die umfangreichen Gutachten, trägt die Staatskasse.