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Wie geht Deutschland?

In Moritzburg konnten sich Geflüchtete auf einen Schulabschluss vorbereiten – ihr Ticket in die Gesellschaft. Zum Ende des Schuljahres lief allerdings die Finanzierung aus. Die Schüler der Modellklasse bangen um ihre Chance.

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© Ann Esswein

Von Ann Esswein

Hinter Pferdeställen und zwischen Einfamilienhäusern liegt die Produktionsschule Moritzburg. Im Klassenzimmer mitten in Sachsen herrscht angestrengte Stille. Bruchrechnen steht heute auf dem Schulplan. Montags bis freitags fahren die zwölf Schülerinnen und Schüler mit dem Bus nach Moritzburg. In der Kleinstadt, in der sonst Touristen entlangschlendern, stehen sie vor einer gewaltigen Aufgabe, die ihr Eintritt in die sächsische Gesellschaft sein soll: Deutsch lernen, Gesellschaftskunde, Mathematik, Biologie, Geschichte und Englisch. Stoff, für den Deutsch-Muttersprachler fünf oder sechs Jahre Zeit haben. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, dem Irak. Sie alle wollen hier bleiben, sich integrieren. Sie wissen, dafür müssen sie den Hauptschulabschluss schaffen.

Auch der 19-Jährige Rohulla stammt aus dem südasiatischen Land.
Auch der 19-Jährige Rohulla stammt aus dem südasiatischen Land. © Ann Esswein
Alessia Bonetti ist eine der Lehrerinnen des international besetzten Kollegiums der Schule.
Alessia Bonetti ist eine der Lehrerinnen des international besetzten Kollegiums der Schule. © Ann Esswein

2/3 + 1/2 + 2/5 steht als Aufgabe an der Tafel. „Das ist einfach, das haben wir schon geübt“, erinnert Arpad Szabo, der Mathematiklehrer, seine Klasse. Rohullah in der zweiten Reihe, 19 Jahre alt und vor zwei Jahren aus Afghanistan geflohen, runzelt die Stirn. Sie müssen den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, um die Aufgabe zu lösen. In Mathematik gibt es dafür eine simple Formel, eine Regel, die immer gilt. Und was ist der kleinste gemeinsame Nenner in der Integration?

„Wenn ich einen Ausbildungsplatz habe, arbeiten kann, Geld verdiene, dann miete ich mir eine Wohnung und dann lebe ich“, sagt Rohullah. So einfach könnte es sein. Aber so einfach ist es nicht in Sachsen für einen jungen Mann aus Afghanistan. Rohullah beobachtet mehr, als er spricht. Der 19-Jährige trägt einen Ohrring im linken Ohr und Tattoos auf den muskulösen Armen. Er könnte leben und sein wie Gleichaltrige. Und dennoch: „Ich fühle mich schon ein bisschen fremd und habe ein bisschen Angst“. Wenn Menschen rufen „Ausländer raus“, mit dem Mittelfinger zeigen oder ihm zurufen, das sei ihr Land: „Was kann man da machen?“, fragt er.

Rohullah weiß: Nur mit einem Schulabschluss bekäme er einen Ausbildungsplatz. Nur mit abgeschlossener Ausbildung hätte er die Chance auf ein Bleiberecht als qualifizierte Fachkraft. Und nur dann wäre er anerkannt. „In unserer Gesellschaft funktioniert Identifikation eben über Erwerbsarbeit“, erklärt David Meis, Geschäftsführer der Produktionsschule, der die Modellklasse mit aufgebaut hat. Die Rechenformel außerhalb des Klassenzimmers lautet: Ohne Arbeit keine Integration, ohne Schulabschluss keine gute Arbeit.

Die Modellklasse an der Produktionsschule Moritzburg begann 2015 als ein Pilotprojekt des Kultusministeriums. Sie war bisher einer der wenigen Orte, an dem sich Jugendliche und junge Erwachsene mit einem speziellen Beschulungssystem auf den Hauptschulabschluss vorbereiten konnten – unabhängig davon, aus welchem Land sie kommen und welchen Aufenthaltsstatus sie haben. „Die Rahmenbedingungen sind so konzipiert, dass es möglich ist, innerhalb von zwei Jahren auf den Schulabschluss vorbereitet zu werden“, sagt Meis.

Die ehemaligen Schüler und Schülerinnen arbeiten jetzt in Krankenhäusern und Handwerksbetrieben, die dringend auf der Suche nach Auszubildenden waren. Aktuell gibt es in Sachsen rund 5 800 freie Lehrstellen. Eigentlich fehlt es an Bewerbern.

Die Bundesagentur für Arbeit beziffert die Anzahl der Geflüchteten ohne Schulabschluss mit 5 000 bis 8 000. Gesa Busche vom Flüchtlingsrat Sachsen geht aber davon aus, dass darunter etwa 2 000 Menschen willens und in der Lage wären, den Hauptschulabschluss nachzuholen. Die Zahlen würden aber sinken, genau wie der Bildungswille, beschreibt Busche. Resignation macht sich breit.

Die Bildungs- und Integrationsangebote beschreibt Gesa Busche als „Flickenteppich, der große Löcher hat“. In das größte Loch fielen alle, die – wie Rohullah – volljährig sind. Denn das Recht auf Bildung lässt sich zwar aus dem Grundgesetz ableiten und ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert. Für Personen über 18 Jahren aber endet die Schulpflicht in Deutschland, auch für Geflüchtete mit unterbrochenen Schulbiografien, die weiter auf Bildungsangebote angewiesen wären. Rohullah hatte, als er vor einem Jahr volljährig wurde, keinen Anspruch mehr auf einen Platz auf der Schulbank; auch Berufsschulen konnten ihn abweisen. „Der Ausbildungsmarkt, eine berufliche Perspektive und damit eine gelingende Integration bleiben ihnen versperrt,“ kritisierte ein Bericht der Expertenkommission der Robert Bosch Stiftung 2015.

Bisher war die Modellklasse in Moritzburg ein einmaliger Versuch, das große Loch im Flickenteppich der Bildungsangebote für Geflüchtete zu stopfen. „Ich verstehe diese Altersgrenze nicht“, sagt Rohullahs Klassenlehrerin Alessia Bonetti. Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, ihren gewünschten Schulabschluss nachzuholen, auch über die Schulpflicht hinaus. Integration sei nicht etwas, dass der Staat von Geflüchteten einfach einfordern könne, ohne ihnen dafür die entsprechende Bildung zukommen zu lassen, findet die 43-Jährige, die selbst aus Italien stammt.

Wie vermittelt man neben Hauptschulstoff Integration? Das ist die herausfordernde Frage, der sich die Lehrerin täglich stellen muss. Die Messlatte bestimmt der sächsische Lehrplan: In Biologie bringt Bonetti der Klasse die heimischen Baum- und Tierarten bei – für die Schüler sind nicht nur die Vokabeln neu. Die Worte lassen sich nicht einfach ins Arabische, in Urdu oder Paschtu übersetzen. Im Geschichtsunterricht lernen die Schülerinnen und Schüler von der Herrschaft August des Starken, die Französische Revolution oder Bismarck. Selbst Jugendliche, die in ihrem Herkunftsland schon zur Schule gingen, hören von Eckdaten deutscher Geschichte zum ersten Mal.

Geschichte ist Rohullahs Lieblingsfach. „Damit kann man wissen, was früher passiert ist, und vielleicht auch, was später passieren kann“ erklärt er. „Wenn man zum Beispiel weiß, was Hitler gemacht hat, kann man aufpassen, dass nie wieder ein Mann wie Hitler alle Macht für sich hat.“ Was im Unterricht vermittelt werde, sei viel mehr als nur der Stoff für die Hauptschulprüfung, erklärt die Klassenlehrerin: „Wir bringen den Schülern bei, was es bedeutet, in Deutschland zu wohnen. Was es hier für Regeln gibt und wie das Zusammenleben funktioniert“, sagt Bonetti. „Wenn ich das politische System in Deutschland nicht kenne, wenn ich nicht weiß, wer für mich was entscheidet und was ich aktiv tun kann, dann bin ich schlecht integriert“.

Gesellschaftskunde ist Karshma wichtig. Die 18-jährige Schülerin trägt blaue Kontaktlinsen, „um auszusehen wie eine Deutsche“. In kurzer Zeit lernte sie Deutsch und wünscht sich deutsche Freunde, um auch in der Freizeit die neue Sprache zu üben. Nach Afghanistan, wo sie herkommt, möchte sie nicht mehr zurück. Im Unterricht sagt sie die fünf Wahlgrundsätze auswendig auf: Geheim, frei, unmittelbar, gleich, allgemein. „Und was bedeutet allgemein?“, fragt Bonetti ihre Klasse. „Es bedeutet, alle dürfen wählen, wenn sie 18 sind und einen deutschen Pass haben“, antwortet Karshma. Sie hinterfragt es nicht, dass für junge Deutsche mit 18 Jahren das Recht auf Mitbestimmung in der Demokratie beginnt, während für sie nun das Recht auf Schulbildung endet.

Für Karshma ist mit Beginn der Sommerferien die Zeit abgelaufen: Sie hat den Hauptschulabschluss nicht bestanden. Sie bemüht sich um einen Abendkurs, um ihr Deutsch zu verbessern. Die meisten Ausbildungen erfordern Sprachniveau B2. Karshma weiß, sie wird noch einen Anlauf brauchen, um sich ihren Berufswunsch erfüllen zu können: Ihr Traum ist es, Stewardess zu werden und in Deutschland zu bleiben. Ihre Familie bekam vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schon 2016 den Bescheid: negativ. Ob Karshma in Deutschland bleiben darf, hängt davon ab, ob sie den Abschluss bekommt. Ohne Garantie, dass sie währenddessen nicht abgeschoben wird. Während für Auszubildende ein sogenannter Abschiebestopp gilt, ist die Teilnahme an einem Integrationskurs oder dem Schulunterricht kein Hinderungsgrund zur Abschiebung.

Vier der insgesamt zwölf Schüler der Modellklasse befinden sich jetzt in der gleichen unsicheren Situation: Sie haben den Hauptschulabschluss nicht geschafft. Mit Beginn der Sommerferien lief die Finanzierung für das Modellprojekt aus. Für Karshma, Rohullah und ihre Mitschüler war der Abschluss in diesem Schuljahr zum Teil die letzte Chance, sagt Geschäftsführer Meis. Wie es weitergeht, bleibt für das Kollegium unklar. Gerade liegt ihr Antrag auf eine erneuerte Finanzierung beim Staatsministerium für Gleichstellung und Integration.

„Wenn da jetzt gar nichts folgt, wäre das dramatisch. Es würde bedeuten, dass man die Gruppe derjenigen, die keinen Schulabschluss und keinen Berufsabschluss haben, hängen lässt“, sagt Gesa Busche vom Sächsischen Flüchtlingsrat. Die Erfahrungen und Kenntnisse der Modellklasse sollte die Landesregierung nutzen. Für David Meis resultieren die Erfolge von drei Jahren Modellklasse in einer einfachen Gleichung: Kleine Gruppenstärke bedeutet Entlastung für die Lehrer. Das pädagogische Verständnis für Deutsch als Fremdsprache bedeutet bessere Lernerfolge. In der Modellklasse Moritzburg gehört die sozialpädagogische Begleitung fest dazu.

„Die Jugendlichen kommen mit einigen Problemen im Rucksack hier an“, erzählt die Sozialarbeiterin Edda Tomaszewski, die das Projekt seit Beginn unterstützt. „Obwohl sie noch halbe Kinder sind, müssen sie die Rollen von Erwachsenen übernehmen. Entweder, weil sie ohne ihre Familien nach Deutschland gekommen sind oder weil sie besser Deutsch sprechen als ihre Eltern“, erklärt die Sozialarbeiterin. Mangelnde Sprachkenntnisse, psychische Probleme und Traumata seien zusätzliche Belastungen. Anders sieht das die Bundesagentur für Arbeit. Viele Ausbildungsstellen setzen eine Vorbildung voraus, die jemand erreicht, wenn er mindestens acht Jahre im deutschen Schulsystem war. Geflüchtete müssen den Kenntnisstand in wenigen Monaten oder Jahren nachholen. Diesen Anspruch würden viele der Geflüchteten nicht erfüllen, erklärte Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping in einer Presseerklärung im April.

Damit auch Jugendliche über 18 Jahre – wie Rohullah – einen Ausbildungsplatz bekommen können, erarbeitete der Freistaat Sachsen ein neues Konzept. Es wird seit April im Regierungskabinett besprochen und trägt den komplizierten Namen „Dringende Maßnahme zur Herstellung von Ausbildungsreife durch Förderung berufsbereichsbezogener Grundbildung für nicht mehr schulpflichtige Flüchtlinge mit geringer schulischer Vorbildung“. 800 Jugendliche, so beziffert die Bundesagentur für Arbeit die Zahl der Geflüchteten, hätten Bedarf an der neuen Bildungsmaßnahme. Die Hälfte davon, rund 400 Jugendliche, sollen ab September in einer ersten Runde gefördert werden. Das Konzept soll bis 2021 in mehren Etappen durchgeführt werden. Durchgeführt wird die Bildungsmaßnahme über 13 Träger. Ob die Produktionsschule Moritzburg unter ihnen sein wird, darüber entscheidet das Gleichstellungsministerium noch in diesem Monat.

Bislang konnten die Schülerinnen und Schüler in Moritzburg unabhängig von ihrem Status den Schulabschluss nachholen. Das wird sich nun ändern. Die zukünftigen Schulplätze sind limitiert. Bei der Auswahl der Schülerinnen und Schüler spiele das Alter eine Rolle, aber vor allem der Status, erklärt Werner Wendel, Fachreferent bei der Leitstelle Vielfalt und Zusammenhalt: „Aber wo setzt man die Schere an?“ Keine Chancen auf einen Schulplatz haben Geflüchtete wie Karshma, die nur per Duldung in Deutschland bleiben dürfen. Für diese Personengruppe bedeutet es auch eine Art Sanktionsmittel, die eine politische Forderung versteckt: Gehe zurück in dein Heimatland. Es sei eine Methode, um Druck auszuüben und ihnen „keinen Hoffnungsschimmer zu machen“, sagt Wendel. Das Konzept soll eine Lücke im Flickenteppich schließen – und schaffe in Wirklichkeit eine weitere.

Nur wer die Schulpflicht schon hinter sich hat, ausreichend Deutsch spricht und einen gesicherten Status nach deutschem Asylrecht hat, bekommt die Chance auf eine Extrarunde auf der Schulbank. Für jene Zielgruppe heißt das Ziel dann nicht mehr Hauptschulabschluss, sondern Ausbildungsreife. „Wir bedienen uns dabei verschiedener Kniffe, die Jugendlichen für die Ausbildung fit zu machen“, erklärt Produktionsschulen-Chef David Meis. Was das bedeuten könnte, hört sich eher nach Praktikum als Schulbank an: Jugendliche und junge Erwachsene bekommen an zwei Schultagen Deutsch und Allgemeinbildung vermittelt. Die anderen zwei Tage der Woche lernen sie im Betrieb. Metallfachjargon statt Goethe. Neben der Orientierung in einem Berufsbild geht es vor allem um Kernkompetenzen, um sich in der Berufswelt zurechtzufinden. Ein Papier, das ihnen einen vergleichbaren Schulabschluss wie den Hauptschulabschluss bestätigt, halten sie am Ende aber nicht in der Hand.

Zu kurz und zu unflexibel nennt Gesa Busche das neue Beschulungskonzept. Geflüchtete hätten einen größeren Aufholbedarf als ihre Altersgenossen. Anstatt wie bisher zwei bis drei Jahre hätten sie nun nur noch 18 Monate, die Hälfte der Zeit, um auf dasselbe Level zu kommen. Auch wenn sie immens motiviert wären, hätten sie im Vergleich kaum Chancen. „Es wird sich zeigen, ob die Unternehmen nicht doch den Hauptschulabschluss fordern“, sagt Busche. Und wenn doch, wären den Betroffenen manche Berufe so faktisch verwehrt, erklärt die Expertin, die gleichzeitig auch für „Resque Continued“ arbeitet, eine Initiative, die Geflüchtete und Unternehmen zum Thema Arbeit und Ausbildung berät: „Wir finden die Fokkusierung auf den Schulabschluss wichtiger als unsere Kolleginnen und Kollegen“.

Für Rohullah wirkte der Hauptschulabschluss wie eine Eintrittskarte zur sächsischen Gesellschaft. Er ist einer der acht Schüler, der an der Produktionsschule Moritzburg den Abschluss geschafft hat. In der Pflege bekam er einen Ausbildungsplatz. Rohullah hat sein Bestes gegeben – und hofft nun auf Anerkennung in der Gesellschaft. „Ich wünsche mir, dass die Leute allen Ausländern eine Chance geben, damit sie lernen können. Wenn sie die deutsche Sprache lernen können, können sie später auch arbeiten, wie die anderen, Geld verdienen und Steuern bezahlen.“