Merken

„Wir alle sind Sexisten“

In einem offenen Brief begehren Theaterleute gegen Äußerungen von Regisseur Frank Castorf auf. Miriam Tscholl von der Dresdner Bürgerbühne hat den Brief mit unterzeichnet.

Teilen
Folgen
NEU!
© dpa

Von Johanna Lemke

Auch in den Ferien rumpelt es ordentlich hinter den Kulissen der Theater. Schuld ist mal wieder Frank Castorf: Der Regie-Altmeister sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, er habe wenige Frauen getroffen, die gutes Theater machen – ähnlich wie im Fußball spielten sie eben in einer anderen Liga. Und es regt sich Widerstand. Innerhalb weniger Tage haben über 600 Personen einen offenen Brief der Dramaturgin Felizitas Stilleke unterschrieben, in dem sie gegen die Aussagen von Frank Castorf protestieren. Unter ihnen ist Miriam Tscholl, Leiterin der Bürgerbühne am Dresdner Staatsschauspiel.

Frau Tscholl, Frank Castorf hat im Interview mit der Süddeutschen Zeitung – kurz heruntergebrochen – behauptet: Frauen können kein Theater. Ist so eine offensichtlich provokante Aussage es überhaupt wert, dazu einen offenen Brief zu schreiben?

Stellen Sie sich vor, wir würden in dieser unserer Zeit auf offensichtlich provokante Aussagen nicht reagieren! Ich will jetzt keine unguten Vergleiche aufmachen, aber ich finde es gut, dass Frau Stilleke diesen Brief geschrieben hat. Ich selbst hatte vor einiger Zeit zum Thema Regie und Frauen auch schon einen offenen Brief geschrieben, ihn aber nicht veröffentlicht, weil es keinen Spaß macht, auf der Seite der beleidigten Opfer zu stehen. Das war eigentlich feige von mir, denn wir wollen ja alle vorankommen in diesem Thema. Außer offensichtlich Frank Castorf.

Was ist dran, wenn er sagt, er habe wenige starke Theaterarbeiten von Frauen erlebt?

Wahrscheinlich ist Castorf relativ selten aus seiner Volksbühne rausgekommen. Ich kann Ihnen auf Anhieb sehr viele tolle Theaterarbeiten von Frauen nennen. Ich sichte derzeit europaweit für das Bürgerbühnenfestival und erlebe Männer- und Frauenarbeiten auf gleicher Höhe.

Doch es gibt ja weniger Regisseurinnen an der Spitze.

Insgesamt studieren heute etwa gleich viele Frauen wie Männer Regie, die Zahlen zeigen jedoch, dass deutlich weniger Frauen Engagements bekommen. Sicherlich setzen auch einige Frauen andere Prioritäten, zum Beispiel für die Familie. In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil der Regisseurinnen um zehn Prozent erhöht, was ich nicht viel finde. Übrigens waren unter den 230 seit Gründung des Berliner Theatertreffens eingeladenen Regisseur*innen nur 28 Frauen! Ich hab vor diesem Interview kurz gegoogelt, die ersten zehn Jahre bis 1980 wurde dort keine einzige Frau eingeladen, und auch im folgenden Jahrzehnt nur vier Frauen. In diesem Jahrzehnt immerhin schon 20 Frauen!

Es tut sich also etwas?

Ja, und allein das ist schon Beweis dafür, dass es eine gesellschaftliche Frage ist und keine biologische, womit der Fußballvergleich von Castorf ja spielt. Ich bin mir insgesamt nicht sicher, ob nicht einige Männer und Frauen sich heimlich nicht ganz sicher sind, ob nicht da vielleicht doch das Testosteron eine Rolle spielt. Wir alle sind Sexisten, es ist nur eine Frage, wie wir damit umgehen.

Castorf sagt, „Exhibitionismus“, „Freiheitsgefühl“ und „Erotik“,seien für gute Theaterarbeit notwendig. Er rechtfertigt damit indirekt sexistisches Verhalten durch Regisseure oder Intendanten. Wie verbreitet ist diese Haltung im deutschen Theater?

Für seine Arbeit und für die Zeit, in der Castorf mit seinen Arbeiten wichtig wurde, war das wahrscheinlich richtig und auch interessant. Freiheitsgefühl auf der Bühne finde ich weiterhin wichtig, aber für mich sind zum Beispiel gesellschaftliche Relevanz und die Frage: „Wer spricht auf der Bühne“ für gutes Theater viel wichtiger als Erotik und Exhibitionismus. Sexistisches Verhalten gibt es ganz bestimmt im deutschen Theater und wahrscheinlich auch an unserem Haus, aber ich habe nicht den Eindruck, dass ich da irgendwelche Skandale nicht mitbekommen habe, die verschwiegen wurden. Die Dinge, die ich mitbekomme, sind eher kleine, oft unbewusste Unachtsamkeiten. Daran sollten wir allerdings arbeiten.

Was kann ein offener Brief bewirken?

Bestimmte Dinge kann man einfach nicht stehen lassen, als wären sie nicht gesagt worden. Außerdem ist es wirklich wichtig, dass wir weiter über die Ursachen sprechen, warum 70 Prozent aller Regisseur*innen und 80 Prozent aller Intendant*innen Männer sind. Die zum Teil unbewussten Mechanismen struktureller Ungleichheit, auch in der Bezahlung von Regisseurinnen, sind tief in uns allen verankert. Eine Frau ist auch, was man in ihr sieht, und so geht es den Männern ebenfalls. Das rauszufinden, ist ein mühsamer und langwieriger Prozess, in welchem wir achtsam sein und viel miteinander reden müssen. Ich glaube, wir Frauen haben schon ein wenig mehr begriffen, wo die Ursachen liegen.

Im Brief steht, die Unterzeichner*innen vermissen „den Punk“, also das Ausbrechen aus Strukturen. Wie können Umbrüche in einem stark männlich geprägten Theatersystem aussehen?

Ich habe den Eindruck und die Hoffnung, dass Intendantinnen tendenziell kollektiver arbeiten, weniger auf Regiestars setzen und mehr Fragen stellen, als Antworten zu geben. Ich selbst habe mich gemeinsam mit einer Frau auf eine Intendanz an einem Theater beworben und wir wurden mit der Begründung abgelehnt: zu kollektiv, zu feministisch, zu partizipativ. Uns Frauen wird Teamgeist als mangelndes Durchsetzungsvermögen und Verantwortungsbewusstsein ausgelegt. Schade. Mich würde eine Transparenz bei den Intendanzen interessieren: Wie viele Frauen, wie viele Männer haben sich beworben? Wie kommt es, dass 80 Prozent der Intendanten Männer sind? Die einzigen Podien, in denen ich fast nur mit Frauen sitze, sind die, die mit kultureller Bildung zu tun haben.

Was hören Sie von Männern zu dem Thema? Unter den Unterzeichner*innen des Briefes sind verhältnismäßig viele Frauen.

Ich glaube, da sind wir Frauen schuld, die unterschrieben haben. Ich selbst habe den Aufruf an vier weitere Frauen weitergeleitet und habe die vielen tollen Männer vergessen, die sicherlich gerne auch unterschrieben hätten. Kurzsichtig von mir. Das nächste Mal.

Interview: Johanna Lemke