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Wismut-Speck am Königstein

Karl-Heinz Bommhardt hat fast 25 Jahre den Abbau von Uran in der Sächsischen Schweiz gemanagt. Nach 25 Jahren streift er noch einmal durch das alte Revier und weiß Erstaunliches.

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© Karl-Ludwig Oberthuer

Von Thomas Schade

Das Berggeschrey am Königstein in Sachsen hörte Karl-Heinz Bommhardt aus der Ferne. Er arbeitete damals Mitte der 60er-Jahre im thüringischen Schmirchau südlich von Ronneburg. Das Dörfchen war schon von der Landkarte Thüringens verschwunden – geschluckt von der Wismut. Die sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft baute das Ronneburger Revier gerade zu ihrem größten Uran-Fördergebiet aus. Bommhardt, knapp 30 Jahre, verheiratet und Vater dreier Kinder, arbeitete im wissenschaftlich-technischen Zentrum. 1955 hatte er bei der Wismut angeheuert. „Es sprach sich herum, dass in Königstein Uranerz gefunden wurde, auch Speck. Und man suchte Leute, die dorthin gehen.“ Speck nannten Wismut-Insider Erz mit einem Urangehalt, der weit über dem Durchschnitt lag.

Von den beiden Hauptförderschächten der Wismut am Königstein ist nur die Baugrube geblieben, bald wächst hier Gras.
Von den beiden Hauptförderschächten der Wismut am Königstein ist nur die Baugrube geblieben, bald wächst hier Gras. © Karl-Ludwig Oberthuer
Mit dieser Teilschnittmaschine wurde in der Sächsischen Schweiz Uranerz gefördert, 1990 wurde der Abbau eingestellt.
Mit dieser Teilschnittmaschine wurde in der Sächsischen Schweiz Uranerz gefördert, 1990 wurde der Abbau eingestellt. © privat

Also fuhr der gelernte Hauer und Geophysiker Anfang 1967 im Wolga seines Chefs zum ersten Mal nach Nikolsdorf und Leupoldishain. Die Dörfer am Westrand des Elbsandsteingebirges hatten nicht viel zu bieten: eine Kneipe, ein Bäcker, eine Pension. Im „Erbgericht“ florierte das Bergmannsleben, über der Kneipe wohnten die Kumpel der ersten Stunde vom Königsteiner Revier. Im Gasthaus in Leupoldishain hatte die Schachtleitung Quartier bezogen. Dort meldete sich der Mann aus Thüringen wenig später zum Dienst. Aussicht auf eine gute Wohnung in Pirna hatte ihn an den Standort gelockt, an den die Wismut große Erwartungen knüpfte.

Schon seit Beginn der Sechzigerjahre zeichnete sich nämlich ab, dass im Erzgebirge bald nicht mehr genügend Uran zu gewinnen war, um die Lieferverpflichtungen gegenüber der Sowjetunion zu erfüllen. Erkundungstrupps schwärmten im Süden der DDR aus, trieben Probebohrungen in die Tiefe und analysierten die Bohrkerne. Auch zwischen Pirna und Königstein. „Aber mehr als die kleine Lagerstätte Pirna hatten sie nicht gefunden“, erzählt Bergbauingenieur Bommhardt. So waren die Geologen zum Jahreswechsel 1962/63 schon dabei weiterzuziehen. Nur ein russischer Geologe drängte hartnäckig darauf, auch die letzte Probebohrung am Ortsrand von Nikolsdorf auf die endgültige Tiefe zu bringen – das legendäre Bohrloch 1210.

Entgegen der Erwartungen konnte in Nummer 1210 ein Urangehalt von bisher nicht vermuteter Höhe nachgewiesen werden. Daraufhin trieben Bohrtrupps mehr als Tausend neue Probebohrungen in die Erde, zwischen Meißen und Hinterhermsdorf an der tschechischen Grenze. Aber nur am Königstein lohnte der Abbau, hier schätzten Geologen den Vorrat auf 12 587 Tonnen Uran. Ein Bergwerk wurde aus dem Boden gestampft – mitten im Landschaftsschutzgebiet.

Etwa eine Milliarde Mark wurden investiert, alle anderen Wismutbetriebe mussten helfen, die Grube aufzuschließen. Unter großem Zeitdruck teuften Bergleute die ersten Schächte ab, Nummer 387 und 388. Von beiden Schächten trieben sie den Querschlag voran. Probleme auf der Nordseite führten dazu, dass das Grubenwasser in die falsche Richtung floss und den Erzabbau behinderte. „Erst mit schwedischen Tauchpumpen war das Grubenwasser zu beherrschen“, erzählt Bommhardt.

Als er 1967 nach Königstein kam, hatte die Wismut schon Besitz ergriffen von Leupoldishain und
Nikolsdorf. Vorbei waren Beschaulichkeit und Sommerfrische. Schwere Laster ramponierten die Straßen. Auf den Schlammpisten kamen die Einwohner oft nur in Gummistiefeln zu ihren Grundstücken, bis die Wismut die Straßen mit Granitsteinen pflasterte. Tag und Nacht karrten Lkws taubes Gestein in die Nikolsdorfer Wände. Seitentäler des Klettergebietes wurden aufgefüllt. Der Wolfsgrundwächter verschwand aus dem Register der Kletterfelsen. Sein Gipfelbuch endet 1966. Er ist fast bis zur Spitze verschüttet. Immerhin verhinderten Naturschützer, dass die Tafelberge des Elbsandsteingebirges Gesellschaft bekamen durch wismut-typische Spitzkegelhalden.

Nach Feierabend flossen in der „Erbse“, wie die Kumpel das „Erbgericht“ nannten, das Bier und der hochprozentige „Kumpeltod“. Ab und zu kam der Landfilm ins Kulturhaus, das sie „Holzoper“ nannten. Wohnlager entstanden. Als die zu eng wurden, weil immer mehr Bergleute in Königstein anheuerten, mussten umliegende Kommunen Wohnungen bereitstellen. In der Nachbarschaft der Festung Königstein wuchs die Hauptbetriebsstätte mit den Schächten 388 und 390 und ihren weithin sichtbaren Fördertürmen, mit Verwaltungsgebäude, Speisehaus, Kauen, eben allem, was zu einem Bergbaubetrieb gehört. Vor dem Werktor wartete an einem Dutzend Bushaltestellen die wismuteigene Ikarusflotte und brachte die Kumpel nach Pirna, Dresden und zu anderen Orten des oberen Elbtals.

Karl-Heinz Bommhardt saß fast nie im Bus. Er kennt jeden Schleichweg zwischen Pirna-Copitz und Königstein. 25 Jahre fuhr er bei jedem Wetter mit dem Trabi.

Nun steht er nach 50 Jahren wieder einmal in Leupoldishain. Den Gasthof gibt es nicht mehr, auch die Wohnbaracken sind verschwunden. Im „Erbgericht“, aus dem die Wismut von der Stasi vertrieben wurde, ist heute die Verwaltung eines Campingplatzes. Weiter oben an den Nikolsdorfer Wänden hält der 79-Jährige auf einer Waldlichtung inne. Eine Schotterpiste deutet darauf hin, dass hier eine Industrieanlage gestanden haben könnte. „Hier war Schacht 387“, sagt Bommhardt und zeigt zum Waldrand. „Dort stand das Betriebsgebäude.“ Der Ingenieur erzählt vom Ärger, den es hier gab, weil der Platz für die Halde fehlte. Das taube Gestein musste über die Nikolsdorfer Wände in ein benachbartes Tal gebracht werden. Ein Förderband wurde gebaut. „Das ,Blaue Wunder‘, wegen des blauen Anstrichs.“ Aber der Anstieg war so steil, dass das Gestein auf dem Band nicht liegen blieb, sondern rückwärts runterrollte. „Eine Investruine war das.“ Schließlich mussten Kipper jahrelang das Gestein auf die Halde fahren. Von alledem ist nichts mehr zu sehen. Schacht 387 ist verschlossen, wie mittlerweile alle Wismutschächte im Königsteiner Revier. Stück für Stück macht sich die Natur wieder breit.

Zweimal 25 Jahre – so gliedert der Bergmann die Wismutgeschichte am Königstein: 25 Jahre Uranförderung, 25 Jahre Uransanierung. Den ersten Abschnitt hat er miterlebt und maßgeblich mitgestaltet. Als Produktionslenker hatte er unter Tage dafür zu sorgen, dass etwas mehr als tausend Tonnen Uran jährlich geliefert wurden. „Aber diese Menge war schon Ende der 70er-Jahre nicht mehr zu schaffen“, sagt Bommhardt. „Der Speck war weg.“ Die Ergiebigkeit des Uranerzes sank. Auch wurden nicht mehr als 2 300 Mitarbeiter genehmigt. 1977 erfüllte Königstein den Plan nicht – ein Desaster in der sozialistischen Produktion, in der Wismut erst recht. „Wir standen mit dem Rücken zur Wand und hatten im Fünfjahrplan 1981 bis 1985 keine Reserven, um mehr zu produzieren.“

Deshalb sei ein chemisches Verfahren produktionsreif gemacht worden, das schon jahrelang bekannt war. Es war aber bisher nur genutzt worden, um aus schwach radioaktivem Fördergut Uran zu lösen, sagt Bommhardt. „So konnten wir immer noch ein paar Tonnen Uran drauflegen, um den Plan zu erfüllen.“ Zu diesem Zweck rieselte auf Halden im Werksgelände eine schwache Säure über das Erz. Die schwache Schwefelsäure löste das Uran aus dem Erz. In einem komplizierten chemischen Prozess trennte man später das Uransulfat wieder und gewann das begehrte Yellowcake, den gelben Kuchen, jene pulverigen Uranverbindungen, auf die die Sowjets in den Jahren nuklearer Aufrüstung so scharf waren.

Nur in Königstein sei es mit der chemischen Gewinnung gelungen, das Uran unter Tage direkt aus dem Gestein zu lösen. „Das war nur in einigen Sorten Sandstein mit ganz besonderen Filtereigenschaften möglich“, sagt Bommhardt. Alle Versuche in Aue und Ronneburg seien erfolglos geblieben. Mit viel Geheimniskrämerei und Investitionen von 40 Millionen Mark strukturierten die Königsteiner ihren Betrieb vom reinen Bergwerk zur bergbauchemischen Produktionsanlage um. „Die Leute merkten das nur daran, dass die Erzseilbahn von Leupoldishain nach Rottwerndorf nicht mehr fuhr“, sagt der Wismut-Mann.

Wie schon das „Blaue Wunder“ war auch die viereinhalb Kilometer lange Seilbahn eine Fehlkonstruktion. Auf dem Weg zum 150 Meter tiefer gelegenen Bahnhof Rottwerndorf machten sich immer wieder Gondeln selbstständig. Sie waren zu schwer beladen und gerieten außer Kontrolle. Eines Tages knickte sogar ein Stützpfeiler um. Fachleute aus der Ukraine rekonstruierten die Anlage. „Sie bekamen moderne Telefone aus DDR-Produktion als Dankeschön“, erzählt der 79-Jährige.

Dramatischer sei die schwere Havarie im September 1984 bei der Sanierung eines Bohrloches gewesen, sagt Bommhardt. Dabei trat Schachtwasser unbehandelt in die Elbe aus. „Die Grenzwerte für Uran, Radon und Eisen in dem Wasser waren erheblich überschritten, ein paar Tonnen gelöstes Uran flossen in die Elbe. Aber in Hamburg hat man das nicht bemerkt“, sagt er. Danach wurden neue Sicherheitsvorschriften eingeführt und Verantwortliche abgestraft. „Mitarbeiter sollten den Nationalpreis bekommen, er war schon bestätigt, nach der Havarie wurde die Ehrung gestrichen.“

Das jähe Ende kam im Herbst 1990. Die Sowjets bezahlten die Uranlieferung im Oktober nicht, und die Lieferung im November nahmen sie gar nicht mehr ab. Mit der Währungsunion sei der Außenhandelspreis für das Kilo Uran von 339,75 DDR-Mark auf 154,37 D-Mark gesunken. „Damit war die Wismut nicht mehr weltmarktfähig, geriet in eine dramatische Finanzlage und stellte die Uranproduktion am 30. Dezember 1990 ein.“ 18 000 Tonnen Uran wurden bis zu diesem Tag in Königstein gewonnen, mehr als ursprünglich zu erwarten war, sagt Karl-Heinz Bommhardt.

Mit Interesse besucht der 79-Jährige nun als Gast die auslaufende Produktionsstätte. Vor Monaten wurden die letzten Förderanlagen demontiert. Jetzt koordiniert Ulrich Brix in Königstein die Sanierung, für die Bommhardt vor 25 Jahren die ersten Konzepte geliefert hat. Alle Untertagearbeiten seien beendet, sagt Brix, der seit 30 Jahren Bergmann ist. Aber Schluss ist in Königstein noch lange nicht. Tief unten laugt schwache Schwefelsäure noch immer Uran aus dem Sandstein. In den Türmen der Aufbereitungsanlage läuft nach wie vor der komplizierte chemische Prozess, an dessen Ende gereinigtes Flutungswasser und eine uranhaltige Suspension entstehen. Mehr als 2 500 Tonnen Uran wurden seit 1990 auf diese Weise gewonnen und unter Aufsicht von Euratom international verkauft.

Auf dem Weg durch das Gewusel der Rohrleitungen beschreibt Brix, wie ein Gebäude nach dem anderen abgerissen und ein neues flaches Werksgebäude errichtet wird. Bis zum Jahr 2025 sei die Sanierung konzipiert. Für jede geförderte Tonne Uran fallen Sanierungskosten von etwa 50 000 Euro an. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Schon 2013 mussten die Bergleute die Flutung der Grube Königstein bei knapp 140 Metern über dem Meeresspiegel stoppen. Seither pumpen sie fast drei Millionen Kubikmeter Wasser jährlich aus dem Bergwerk, um diese Höhe zu halten. Die Flutung bis zum endgültigen Einstau bei 190 Metern ist bis heute nicht genehmigt. Die Risiken im Grubengebäude gelten als unkalkulierbar. „Bleibt die Genehmigung aus, müssen wir auf unbestimmte Zeit diese Einstauhöhe sichern“, sagt Brix.

Karl-Heinz Bommhardt, der alte Bergmann, der ein Buch über die Wismut am Königstein geschrieben hat, fügt hinzu: „Eine Grube ist eben keine Puddingfabrik, die man einfach zumachen und verkaufen kann, wie das einige 1990 gerne wollten.“ Eine Lagerstätte sei vielmehr wie ein Mehlsack. „Den kannst du hundertmal ausklopfen, beim 101. Mal staubt er immer noch.“

Buchtipp: Karl-Heinz Bommhardt, Die Wismut am Königstein, Verlag Bild und Heimat, 399 Seiten, 14.99 Euro