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Als Riesas Elbbrücke gesprengt wurde

Vor 75 Jahren rückte die Sowjetarmee in Riesa ein, der Krieg war zuende. Das Tagebuch einer 90-Jährigen erinnert an diese Zeit.

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Ursula Vierig lässt sich auch mit 90 nicht von den aktuellen Schwierigkeiten unterkriegen. Allerdings bewegt sie in diesen Tagen die Erinnerung an das Kriegsende vor 75 Jahren, über das die Riesaerin Tagebuch geführt hat.
Ursula Vierig lässt sich auch mit 90 nicht von den aktuellen Schwierigkeiten unterkriegen. Allerdings bewegt sie in diesen Tagen die Erinnerung an das Kriegsende vor 75 Jahren, über das die Riesaerin Tagebuch geführt hat. © Sebastian Schultz

Riesa. Für ihr Tagebuch hat Ursula Vierig derzeit viel Zeit. Erzwungenermaßen: Die 90-Jährige hält sich strikt an die Regeln während der Corona-Krise - und möchte dennoch ein anderes Ereignis nicht in Vergessenheit geraten lassen: Das Kriegsende in Riesa, das vor genau 75 Jahren Folgen für die Menschen in der Stadt hatte.

Am 23. April 1945 wurde die Elbbrücke gesprengt, zwei Tage später kamen die Russen nach Riesa. Mit Genehmigung der Autorin veröffentlicht die SZ Auszüge aus den Erinnerungen der späteren Mathematik-Lehrerin und aus dem Tagebuch ihrer Mutter. Während Helene Hänsgen 1994 im 86. Lebensjahr starb, lebt ihre Tochter Ursula Vierig bis heute in Riesa. Anfang 1945 absolvierte sie ein sogenanntes Pflichtjahr auf einem Bauernhof in Moritz, auf der rechten Elbseite gegenüber von Riesa. (SZ)

Flüchtlingstrecks, KZ-Häftlinge, Panzerspitzen

Am 14. April fallen die ersten Bomben in Riesa. Einige treffen das Eisenwerk, aber auch das Häuschen vom Zahnarzt W. am Kutzschenstein wird zertrümmert. Die großen Ölbehälter in Gröba brennen. Am 20. April gegen 15.30 Uhr heulen die Sirenen wieder. Wenige Augenblicke später ertönen ohrenbetäubende Explosionen durch Bomben, die mit Volltreffer in die Munitionsfabrik Zeithain fallen. Sie dauern die ganze Nacht an. Lautsprecher fahren durch die Straßen. Frauen und Kinder sollen die Stadt verlassen, Riesa wird bis zum letzten Haus verteidigt. Die Bevölkerung ist entsetzt. (...)

Unaufhörlich ziehen Flüchtlingstrecks durch die Straßen. Dazwischen schlürfen in Holzpantinen die Elendsgestalten aus den Konzentrationslagern. (...) Panzerspitzen sind vor Leipzig gemeldet. (...) Am Abend bringen wir die Betten, Kissen und Decken in den Keller. Jeder Hausbewohner hat sich eine Ecke eingerichtet, die bei nächtlichem Alarm aufgesucht wird. In den Geschäften gibt es Lebensmittel ohne Marken. (...) 

In ihrem Tagebuch hielt die heute 90-jährige Ursula Vierig die Ereignisse vom Kriegsende in Riesa fest. Auf dem Foto von 1943 ist sie links zu sehen, mit ihrer Mutter Helene und der kleinen Schwester Ruth. Auch die Mutter führte ein Tagebuch - die Erinner
In ihrem Tagebuch hielt die heute 90-jährige Ursula Vierig die Ereignisse vom Kriegsende in Riesa fest. Auf dem Foto von 1943 ist sie links zu sehen, mit ihrer Mutter Helene und der kleinen Schwester Ruth. Auch die Mutter führte ein Tagebuch - die Erinner © Sebastian Schultz

Die Menschen stehen stundenlang in den meterlangen Schlangen vor den Läden. (...) Die Warteschlangen lösen sich nur auf, wenn die Tiefflieger dicht über den Häusern hinwegbrausen und die Geschütze knattern. (...) Mitte April werden noch die Speicher geräumt, und die Abgabe der Ware erfolgt auf der Speicherstraße. (...) Unsere Große brachte einen Käse an, groß wie ein Wagenrad. Sie hatte ihn von der Speicherstraße bis zur Goethestraße gerollt. (...)

Im Frühjahr müssen in den Gemeinden aus Familien und den Bauernhöfen Leute zum Schanzen zur Verfügung gestellt werden. Ein ganzes Labyrinth von Gräben wird geschaufelt, Hindernisse werden errichtet, Stellungen für Geschütze und sogar Panzersperren. Wie Narben erstrecken sich die Grabungen über die Fluren von Moritz, Promnitz, Zeithain und Röderau. Der Rücken schmerzt, und die Hände haben Blasen von dieser ungewohnten Arbeit. (...)

Die Geräusche der Kampfhandlungen der näher rückenden Truppen sind beängstigend. Mal kommt der Geschützdonner aus Richtung Leipzig, dann wieder aus Großenhain. Dazwischen Explosionen in unmittelbarer Nähe und dazu die hektisch umherlaufenden Soldaten am Tag und in der Nacht. Durch Flüsterpropaganda erfahren wir, dass die Elbbrücke, Hafenbrücke, Gleis- und Fabrikanlagen vermint sind. Neue Ängste kommen auf. In der Nacht zum 22. April machen wir im Keller kein Auge zu. Der englische Sender bringt Stellungsberichte von russischen Truppen, sie sollen vor Großenhain stehen.

An der Brücke war Schluss

Mich packte eine unsagbare Sehnsucht nach den Eltern und der Schwester. (...) So holte ich mein Rad aus dem Schuppen und machte mich mitten in der Nacht auf den Weg nach Riesa. Fahren konnte ich nur stellenweise, meist war es ein Holpern und Stolpern über die angelegten Gräben und Stellungen. Dazu grollten die Geschütze, brummten die Flugzeuge. (...) In Röderau stieß ich auf beladene Pferdewagen, Karren, Handwagen und Kinderwagen. Apathische Menschen hockten dazwischen mit Koffern, Taschen und Rucksäcken. Der gesamte Treck staute sich bis zur Brücke. (...) 

Zu den Geräuschen der Kampfhandlungen kamen das Weinen der Kinder, das Wimmern und Jammern der Erwachsenen und Hilfsbedürftigen. Entsetzt entdeckte ich am Straßenrand auch leblose Körper, um die sich keiner kümmerte.

Ohne Gepäck gelang es mir, leichter vorwärts zu kommen. Aber an der Brücke war Schluss. Dort stand die Sicherheitstruppe der Wehrmacht und ließ keinen über die Brücke. Mit schluchzender Stimme flehte ich immer wieder: "Ich wohne in Riesa, ich will nach Hause!" Tatsächlich erbarmte sich ein Wehrmachtsangehöriger und ließ mich passieren. Mit schlotternden Knien schob ich mein Rad neben mir her, nie wieder ist mir unsere Elbe so breit vorgekommen wie in jener Nacht. Eine Stunde später lag ich weinend vor Glück in Mutters Armen. Am 23. April wurde die Elbbrücke gegen 22 Uhr gesprengt.

Das Foto aus dem Bestand des Riesaer Stadtmuseums zeigt Bergungsarbeiten an der gesprengten Elbebrücke im Mai 1945. Während die schwer beschädigte Bahnbrücke bis zum Juli 1945 wieder in Betrieb genommen werden konnte, dauerte es elf Jahre, bis Riesa eine
Das Foto aus dem Bestand des Riesaer Stadtmuseums zeigt Bergungsarbeiten an der gesprengten Elbebrücke im Mai 1945. Während die schwer beschädigte Bahnbrücke bis zum Juli 1945 wieder in Betrieb genommen werden konnte, dauerte es elf Jahre, bis Riesa eine © Stadtmuseum Riesa

Am Morgen des 25. April herrscht plötzlich unheimliche Ruhe in der Stadt. Die Wehrmacht und die Polizei haben die Stadt verlassen. Der gesamte Verkehr ruht. (...) Unmassen von Flüchtlingen stauen sich im Stadtgebiet, am Rosenplatz (heute Puschkinplatz) sieht es besonders schlimm aus. Es gibt keinen Strom, kein Gas, kein Wasser, dafür eine furchtbare Angst vor den anrückenden Russen. (...) 

Zurückflutende Flüchtlinge suchen Schutz auf unserem Hof und berichten, dass die ersten versprengten Russen die Stadt erreicht haben. Sie plündern die Geschäfte, nehmen den Flüchtlingen Bekleidung, Uhren, Koffer sowie Fahrräder weg. (...) Bei jedem stürmischen Klopfen an die Fenster erschrickt man. Wir wohnen im Parterre, und die Reparaturwerkstatt ist ein besonderer Anziehungspunkt. (...) 

Heute gab es einen scharfen Knall im Schlafzimmer. Beim vorsichtigen Nachsehen entdecke ich den Durchschuss in der Scheibe und die Revolverkugel im Kopfkissen. Im gleichen Moment hören wir, dass das Haustor aufgebrochen wird. Die Russen schieben ein Auto auf den Hof. Der Meister war außer Haus, und unser Vati wurde aus der Wohnung geholt. (...) Mit einem Revolver im Genick musste er einen Reifenwechsel vornehmen. (...) Ende April gehen die Russen durch die Wohnungen und suchen Männer für den Bau einer Behelfsbrücke. (...)

Auch die Hafenbrücke in Gröba wurde 1945 vor dem Einzug der sowjetischen Truppen gesprengt. Die Ansicht aus dem Stadtmuseum Riesa wurde von der Kirchstraße aus fotografiert. Wenige Hundert Meter weiter war auch die Schloßbrücke am Hafeneingang zerstört wo
Auch die Hafenbrücke in Gröba wurde 1945 vor dem Einzug der sowjetischen Truppen gesprengt. Die Ansicht aus dem Stadtmuseum Riesa wurde von der Kirchstraße aus fotografiert. Wenige Hundert Meter weiter war auch die Schloßbrücke am Hafeneingang zerstört wo © Stadtmuseum Riesa

Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wird immer schwieriger, zusätzlich treffen weitere Flüchtlinge in Riesa ein, die ja ebenfalls hungrig sind. Wohnungen und Keller werden aufgebrochen und geplündert nach etwas Essbarem. (...) Vati ist mit der Hoffnung nach Moritz zu D. gelaufen, eine Kanne Milch zu bekommen. Erschüttert kam er zurück. Es sieht trostlos aus, alles ist verwüstet und zerschlagen, das Vieh mitgenommen oder vor Ort geschlachtet. (...) Zu allem Unglück war eine Scheune als Proviantlager von der Wehrmacht beschlagnahmt und bis unters Dach vollgepackt mit Lebensmitteln und jeder Menge Schnaps und Wein. Wie bin ich froh, dass U. in der Nacht nach Hause kam, alle Frauen sind mehrfach vergewaltigt worden. (...)

Pferde, Kühe und Revolverschüsse

In der Nacht weckte uns ein unheimlicher Lärm auf der Straße. Die Russen zogen durch die Goethestraße: Panzer, Gespanne, Fahrzeuge, Reiterei und hochbeladene Wagen mit schnatternden Gänsen und  gackernden Hühnern in Boxen obenauf. Dahinter angebundene Pferde, Kühe, Kälber und Ziegen. (...) Am 5. Mai ziehen die Russen in langen Kolonnen ab, und Engländer und Franzosen bevölkern die Straßen. Aber nicht lange! Wenig später sind neue Russen da, und alles beginnt wieder von vorn. (...)

Am 9. Mai zogen die Sieger mit Musik und Salutschüssen durch die Stadt. Wir hielten uns auf dem Hof auf, und plötzlich stand ein Russe vor uns, zog den Revolver und fuchtelte damit vor uns herum. Dann zielte er in die Luft, feuerte das ganze Magazin leer und schrie: "Hurra, Krieg kaputt!"

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