Bautzen
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„Ich kann nur hoffen, dass auch ich 1989 auf die Straße gegangen wäre“

CDU-Politiker Ruprecht Polenz ist in einem kleinen Ort bei Bautzen geboren. Bei einem Besuch in der alten Heimat spricht er über Zivilcourage - und darüber, warum Demokratie oft anstregend ist.

Von Carlotta Böttcher
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Ruprecht Polenz war am Freitag Abend zu Gast bei den Bautzener Reden im Dom St. Petri.
Ruprecht Polenz war am Freitag Abend zu Gast bei den Bautzener Reden im Dom St. Petri. © Steffen Unger

Bautzen. Die Luft ist klirrend kalt, die weiße Schneedecke unberührt. Ruprecht Polenz legt den Kopf zurück und blickt nach oben. Vor ihm ragt die sechsstöckige braune Fassade in den blauen Himmel: das ehemalige Bautzner Stasi-Gefängnis. Hier wurden Regimekritiker, Fluchthelfer, Spione und fluchtwillige DDR-Bürger inhaftiert, die das Ministerium für Staatssicherheit als besonders „staatsgefährdend“ erachtete.

Polenz ist das erste Mal in der Gedenkstätte zu Besuch. Der CDU-Politiker ist 1946 in Denkwitz südlich von Bautzen geboren. Als er sechs Jahre alt war und eingeschult werden sollte, packten seine Eltern die Koffer. Sie erzählten Polenz und seinem Bruder, sie fahren in den Urlaub nach Hiddensee. Erst als sie in der Berliner Friedrichstraße mit der S-Bahn über die Grenze nach Westdeutschland fuhren, fielen sie sich erleichtert in die Arme. So erzählt es Polenz heute, und er meint: „Auch wenn es lange her ist, so etwas vergisst man nicht.“ Polenz wuchs nach der Flucht in Münster auf, studierte Jura, machte Karriere in der CDU und saß von 1994 bis 2013 im Bundestag.

Polenz: "Sie haben sich die Demokratie erkämpft"

Der Besucherreferent führt Polenz durch Arrestzellen, sechs Quadratmeter klein, die Fenster verklebt, damit man den Himmel nicht sehen kann. Er erzählt von Gefängniswärtern, die die Häftlinge nur alle 14 Tage duschen ließen und kontrollierten, dass sie in Rückenlage schliefen, die Unterarme über der Bettdecke. Nachfrage bei Polenz: Ob er sich manchmal fragt, was gewesen wäre, wären seine Eltern damals nicht geflohen? Polenz zögert nicht lange, er habe oft darüber nachgedacht. Er sagt: „So etwas kann man nicht wissen.“ Er wolle sich über niemanden erheben und nicht kollektiv verurteilen. „Ich kann nur hoffen, dass ich 1989 auch auf die Straße gegangen wäre.“

Gegen den Missbrauch der Symbole der Wendezeit

Diesen Satz wird Polenz am Abend bei den Bautzener Reden noch einmal wiederholen. Und er wird den gut hundert Anwesenden im Dom St. Petri seinen Respekt aussprechen: „Sie haben sich 1989 die Demokratie erkämpft. In der deutschen Geschichte ist das ziemlich einmalig.“ In seiner Rede spricht er über Freiheit und dass sie anstrengend ist. „Man muss sich informieren, eine Meinung bilden, mitdenken, wählen, letztendlich ein aktiver Demokrat sein.“

An die rechte Protestbewegung findet er deutliche Worte: „Mit dem Ausruf ‚Wir sind das Volk‘ wendeten sich die Menschen 1989 gegen eine Diktatur. Heute wenden sich Menschen damit gegen die gewählten Vertreter des Volkes. Das ist ein riesiger Unterschied“, sagt Polenz. „Und es ist eine blanke Unverschämtheit, diese Worte von großer demokratischer Kraft so zu missbrauchen.“ Das Klopfen der Zuhörer auf den Holzbänken klingt beeindruckend in der großen Halle des Doms.

Oberlausitz: Eine Toleranzregion

Polenz schaut schon längst nicht mehr auf seine Notizen auf dem Rednerpult. Einen letzten Appell hat er noch: Die Reformierten und die Katholiken seien hier anders miteinander umgegangen als in anderen Teilen Deutschlands und Europas. 1524 einigten sich Katholiken und Protestanten, das Gotteshaus gemeinsam zu nutzen und fanden somit einen Kompromiss, ohne sich zu bekriegen. „Die Region ist eine Brückenlandschaft“, sagt Polenz. „Und am 1. September, wenn in Sachsen gewählt wird, hat die Oberlausitz einen Jahrhunderte alten Ruf als Toleranzregion zu verteidigen.“ Das Wort Toleranzregion ist Polenz wichtig, er wiederholt es mehrmals.

Die Veranstalter des Abends, die Initiative Bautzen Gemeinsam, habe die Ärmel hochgekrempelt und gezeigt, dass wehrhafte Demokratie nicht einfach etwas ist, was man den Politikern übertragen kann. Es werde immer schwieriger zu diskutieren, wenn das Gegenüber das exakte Gegenteil vertritt. Wenn für den einen der Himmel blau ist und für den anderen grün. Die Diskussionsgruppen haben sich inzwischen so weit voneinander entfernt, dass man kaum noch diskutieren kann.

Aber im Arbeitskreis, im Sportverein oder in der Nachbarschaft, da, wo man sich noch persönlich kennt, kann man sich vielleicht doch noch erreichen. „Ich weiß, solche Gespräche sind nicht einfach, und sie erfordern Mut,“ sagt Polenz. Aber solchen Formen der Wirklichkeitsverdrehung könne kein Ministerpräsident und keine Regierung allein entgegentreten. Polenz: „Die einzige Möglichkeit ist, dass es viele machen. Seien wir alle wehrhafte Demokratinnen und Demokraten.“

Nächste Rednerin der Reihe Bautzener Reden ist die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann. Sie spricht am 9. Februar 2024 im Dom über den Klimawandel und das Ende des Kapitalismus.