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"Wir können Kindern hier geben, was sie zuvor nicht hatten"

Erzieherin Marlis Olak hat mehr als 40 Jahre in Kindergarten und Jugendhilfe gearbeitet, zuletzt in einer besonderen Wohngruppe im Kreis Bautzen. Wie sie es geschafft hat, traumatisierten Kindern Geborgenheit zu geben.

Von Miriam Schönbach
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Abhängen als Therapie: Mit einem Lächeln nimmt Erzieherin Marlis Olak Abschied von ihrer letzten beruflichen Station, dem Katschwitzer Hof, einer besonderen Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit Bindungsstörungen.
Abhängen als Therapie: Mit einem Lächeln nimmt Erzieherin Marlis Olak Abschied von ihrer letzten beruflichen Station, dem Katschwitzer Hof, einer besonderen Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit Bindungsstörungen. © Steffen Unger

Katschwitz. In diese Hängematte passen genau zwei Leute und ein großes Herz. Schulter an Schulter liegen Marlis Olak und ein 13-Jähriger aus der therapeutischen Kleinstwohngruppe „Katschwitzer Hof“ in ihrem schaukelnden Bett im Sinnesraum. Mitgebracht hat der Junge unter das Dach im umgebauten Bauernhof ein Buch von Harry Potter. Der Mehrteiler erzählt, wie ein Waisenkind und irgendwie auch Regelbrecher – wohlgemerkt mit Zauberkraft – zum Weltenretter wird. Es ist eine Geschichte, die zu der besonderen Wohngemeinschaft am Rand des kleinen Dorfes Katschwitz in der Gemeinde Doberschau-Gaußig passt. Sie ist ein Rückzugsort für Kinder und Jugendliche mit Bindungsstörungen.

Marlis Olak hört zu, sie lächelt. Zwischen ihr und den Jungen besteht eine große Nähe. Die Heilpädagogin und Erzieherin gehört zu jenen, die den Katschwitzer Hof aufgebaut haben. Dessen Bewohner haben aufgrund ihrer familiären Situation oft nicht mehr die Perspektive, zurück nach Hause zu kommen. „Unsere Kinder haben oft über Jahre erlebt, wie sie weitergereicht wurden. Wir können ihnen hier geben, was sie zuvor nicht hatten“, sagt die 63-Jährige. Jetzt sagt sie „Auf Wiedersehen“, auch zu ihrem Hängematten-Begleiter. Nach mehr als vier Jahrzehnten in Kindergarten und der Erziehungshilfe verabschiedet sich Marlis Olak in den Ruhestand.

Im Sandkasten mit dem späteren Ministerpräsidenten

Als Dorfkind wächst sie in einer sorbischen Familie in Döbra bei Oßling auf. Fünf Kinder, sie ist die Nr. 2. Auf dem Hof gibt es eine Ziege und ein Schwein, die Mutter arbeitet in der Muna, der Munitionsfabrik in Königswartha. Am Wochenende wandert Marlis vierjährig schon zu den Großeltern nach Horka. Der Opa arbeitet im Steinbruch, am Sonnabend kündigen die Arbeiter ihr Kommen immer mit den Worten an: „Johann, da kommt sie wieder“. Im Sandkasten buddelt sie zusammen mit dem späteren sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich.

Marlis Olak denkt zurück an diese Zeit in den 1960er-Jahren. „Das Soziale, das Helfen untereinander, auch in der Nachbarschaft habe ich von Zuhause mitbekommen“, sagt die Mitarbeiterin der Kinderarche Sachsen. Der Verein ist einer der größten sächsischen Träger der Kinder- und Jugendhilfe und betreibt den Katschwitzer Hof. Die beruflichen Anfänge bringen die Erzieherin jedoch zuerst in den Kindergarten nach Oßling. Nach 15 Jahren dort entscheidet die zweifache Mutter und sechsfache Großmutter, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Die gelernte Kindergärtnerin bewirbt sich bei ihrem jetzigen Arbeitgeber.

Bei der Kinderarche Sachsen 70 Kinder betreut

Ihre erste Aufgabe heißt: Eins-zu-Eins-Betreuung eines 16-jährigen Jugendlichen, der zuvor zwei Jahre in der Psychiatrie war. Sie richtet ihm und seiner Freundin später sogar eine richtige Hochzeit aus. Nähe zulassen – das ist vielleicht das Geheimnis von Marlis Olak – und trotzdem die professionelle Distanz wahren.

Sie wechselt zur Sozialpädagogischen Wohngruppe im „Haus Kleeblatt“ in Kamenz, baut eine Mutter-Kind-Wohngruppe auf, absolviert berufsbegleitend die Ausbildung zum Erzieher und zum Heilpädagogen und leitet die Inobhutnahme in Kamenz. Das ist ein Ort, wo Kinder und Jugendliche in Krisensituationen schnell aufgenommen werden können.

Marlis Olaks Anliegen ist es immer – damals wie heute –, die Eltern mit ins Boot zu holen, die Schützlinge im besten Fall wieder nach Hause zu begleiten. Um manchen von ihnen kümmert sie sich mehr als ein Jahrzehnt, für manche müssen sie und ihre Kollegen feststellen, dass es eben doch nicht immer eine Rückkehr ins Zuhause gibt.

Ein Schlaganfall wirft Marlis Olak 2011 aus der Bahn, sie steht wieder auf, auch weil sie gebraucht wird. 2012 eröffnet der Katschwitzer Hof für fünf Jungen, denen aus unterschiedlichen Gründen ein Weg zurück in die Familien verwehrt bleibt. Seitdem gehören auch sie zu ihren gut 70 Herzkindern, um die sie sich in der Kinderarche-Zeit gekümmert hat.

Insgesamt sind sechs Pädagogen und Erzieher an 365 Tagen von Montag bis Sonntag 24 Stunden für die Wohngruppe da – Weihnachten, in den Ferien, an Geburtstagen und im Alltag. Marlis Olaks Nachfolgerin steht schon bereit, die Erzieherin a.D. schaut dankbar zurück – und gibt den Kollegen ihre Philosophie mit. „Unsere Arbeit ist eine wunderschöne Berufung. Wir können sie auf den Weg bringen mit einer Hoffnung, das eigene Leben meistern zu können“, sagt die Sorbin.

"Wir müssen trotz Wut da sein"

Dafür braucht es viel Zeit, Regeln, Stabilität wie die gemeinsamen Mahlzeiten, Halt und Sicherheit und die Fähigkeit, zuweilen das Schreien und Weinen auszuhalten. „Die Wut muss raus auf irgendeine Art und Weise. Wir müssen trotzdem da sein“, sagt Marlis Olak. Sie hat auch eine Zauberkraft wie Harry Potter. Sie nimmt ihre Jungs bei zu viel Wut in den Arm. Die traumatisierten Kinder bekommen so Liebe und Geborgenheit, wonach sie so sehr suchen.

Und was kommt für Marlis Olak nach dem intensiven Berufsleben? Langeweile sicher nicht. Zum einem kümmert sie sich inzwischen um ihre Mutter mit Demenz, zum anderen ist sie Mitglied im Dorfclub ihres Heimatdorfes und dort für das Kinder- und Seniorenprogramm zuständig. Den Kontakt zum Katschwitzer Hof will sie halten, vielleicht zuweilen mit den Jungs in der Hängematte abhängen und davon träumen, wie aus einem Außenseiter ein Weltenretter werden kann.