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Im Schleifer Kirchspiel geht die sorbische Alltagstracht verloren

Mit Hana Kowalowa in Halbendorf starb jetzt die letzte Trägerin. Eine historische Zäsur. Die Sorbinnen haben es selbst in der Hand, dass diese Tracht nicht nur als ein folkloristisches Gewand erhalten bleibt.

Von Andreas Kirschke
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Dieses Fotos entstand 1986 nahe Rohne. Es zeigt die Sorbinnen Marie Hentschel, Else Niemz, Alwine Lewa, Anna Glowka und Lene Nickel (v.li.) in Arbeitstracht auf dem Feld beim Spargelstechen.
Dieses Fotos entstand 1986 nahe Rohne. Es zeigt die Sorbinnen Marie Hentschel, Else Niemz, Alwine Lewa, Anna Glowka und Lene Nickel (v.li.) in Arbeitstracht auf dem Feld beim Spargelstechen. © Archivfoto: Jürgen Matschie

Zur Identität und zum Straßenbild im Schleifer Kirchspiel gehörte über Jahrhunderte die sorbische Alltagstracht. Zur Feldarbeit, zu Hause auf dem Hof, im Haushalt, in der Schule und überall im öffentlichen Leben trugen Mädchen und Frauen die Alltagstracht. Jetzt verschwindet sie. Mit der Sorbin Hana Kowalowa (1926 – 2024) starb nun in Halbendorf die letzte Alltagstrachtenträgerin. Ein historischer Einschnitt, wie Juliana Kaulfürstowa findet. Die Motivatorin für die sorbische Sprache im Territorium Schleife und Nochten durfte von 2010 bis 2024 viele Trachtenträgerinnen noch kennenlernen. Im Interview spricht sie über das dabei Erlebte.

Juliana Kaulfürstowa, Sprachmotivatorin für das Kirchspiel Schleife und Nochten, trägt selber bei vielen Anlässen Tracht.
Juliana Kaulfürstowa, Sprachmotivatorin für das Kirchspiel Schleife und Nochten, trägt selber bei vielen Anlässen Tracht. © Constanze Knappe

Frau Kaulfürstowa, mit der Sorbin Hana Kowalowa starb die letzte Alltags-Trachtenträgerin im Kirchspiel Schleife. Wie nahmen Sie die Nachricht auf?

Ich war traurig. Mir war klar, dass eines Tages die Alltagstracht für immer verschwindet. Jetzt, wo es so weit ist, bleiben nur die Erinnerungen an viele herzliche Begegnungen mit den Trachtenträgerinnen.

Endet jetzt ein historischer Abschnitt?

Das kann man so sagen. Es ist eine historische Zäsur. Eine prägende Ära geht zu Ende. Hier geht eine Kultur und eine Tradition der sorbischen Alltagstracht unwiederbringlich verloren.

Wie viele Alltagstrachtenträgerinnen gab es denn zuletzt noch im Kirchspiel?

Zuletzt waren es noch acht Frauen, die die Schleifer Tracht im Alltag trugen: Marja Kowalowa (nach dem Hofnamen Hobuzyna genannt) in Mulkwitz; Hana Šprejcowa (Šnajderoc) in Mühlrose; Ema Kralowa, Hana Pawlikowa und Ema Krawcowa (Jurowa) in Rohne; Hana Krańkowa (nach dem Hofnamen Brodcyc genannt) in Trebendorf; Marja Zeisigoc, Hana Kowalowa (Juŕkoc) in Halbendorf. Hana Kowalowa war mit 98 Jahren die letzte noch verbliebene Alltagstrachtenträgerin.

In welchem Zeitraum gab es die Alltagstracht im Kirchspiel?

Das ist schwierig zu sagen. Denn genaue Aufzeichnungen gibt es darüber nicht. In jedem Fall war die Alltagstracht ein klares Bekenntnis zur sorbischen Kultur und Muttersprache. Sie war die Entscheidung sehr starker Frauen. Je mehr ich darüber nachdenke, umso bewusster wird mir das. Diese Frauen standen immer zu ihrer Tracht – in der Nazi-Zeit, in der DDR-Zeit, in Zeiten politischen und ideologischen Drucks und später in der Zeit der neuen Freiheit.

Wann und wie zeichneten Sie die Erinnerungen der Frauen auf?

Das begann 2010. Es kam von innen heraus, aus eigenem Antrieb. Ich war im Kirchspiel Schleife für die Domowina Koordinatorin für sorbische Projekte im außerschulischen Bereich. Bei einer Veranstaltung saß Muttersprachler Hanzo Mrosk aus Trebendorf neben mir. Als ich sein besonderes, klingendes Schleifer Sorbisch hörte, war mir klar, dass ich sofort beginnen musste, in allen Dörfern des Kirchspiels Tonaufnahmen zu machen. Denn nicht nur die Trachten, sondern auch täglich gesprochenes Sorbisch war bereits eine Seltenheit. So lernte ich bei meinen Besuchen der lieben alten Leute dann auch Frauen in Tracht kennen. Fast 80 Stunden Aufzeichnungen kamen in sechs Jahren zusammen, einschließlich Gesang. Das Aufnahmegerät lief nach anfänglicher Scheu dann nur noch „nebenbei“. Die Frauen und Männer erzählten über sich und über ihr Leben. Ich bin von Herzen dankbar für das Vertrauen.

Welche Erinnerungen haben Sie an Hana Kowalowa?

Sie ging sehr akkurat, sehr gewissenhaft in ihrer Alltagstracht. Als ich sie traf, war sie 86 Jahre alt. Sie hatte in ihrer Stimme ein Lachen. Ein unverzagtes, lebensfrohes Lachen – trotz aller Entbehrungen im Leben.

Wie verlief ihr Leben?

Sie wuchs auf einem Bauernhof auf. Die Landwirtschaft verlangte der Familie viel Arbeit ab. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war sie erst 13 Jahre alt. Ein Jahr später, 1940, ging sie nach der achten Klasse aus der Schule. Die Männer mussten in den Krieg. Sie erzählte von der Flucht und davon, wie schlimm die Höfe nach Kriegsende ausgesehen haben. Die Familie musste den Hof wieder aufbauen. Hana Kowalowas Mann war Kriegsheimkehrer. Sie kannte ihn noch von früher. Durch den Krieg gezeichnet kehrte er völlig abgemagert heim. Oft war er krank. Er starb mit 75 Jahren.

Wie kam sie mit ihrem Leben zurecht?

Als junge Frau, so erzählte sie, baute sie den sowjetischen Ehrenfriedhof in Trebendorf mit. Das Schachten, die Zement-Einfassungen und selbst die Beerdigungen von im Umland gefallenen Soldaten in einfachen Holzkisten musste sie mit verrichten. Nach dem Krieg gehörte ihr und ihrem Mann eine kleine Landwirtschaft. Vom Nichts hätten sie beginnen müssen, erzählte sie mir.

War ihr Mann ebenfalls Sorbe?

Ja, das war er. Auch seine Eltern waren Sorben. Hana Kowalowa sprach im Alltag mit ihnen noch Sorbisch. Mit ihrem Mann dann nicht mehr. „Der war vom Krieg alles deutsch gewohnt“, sagte sie mir. „Da hätten sie angefangen, deutsch zu sprechen.

Was berührte Sie im Gespräch mit Hana Kowalowa besonders?

Sie erzählte mir von der Hitler-Zeit. Da war die sorbische Sprache im öffentlichen Leben bei Strafe verboten. Mit ihren Eltern sprach Hana Kowalowa dennoch zu Hause Sorbisch. Dass es jetzt Kindern wieder beigebracht wird, freute sie von Herzen.

Was bedeutet der jetzige Einschnitt für die Tracht im Kirchspiel?

Wir werden die Tracht als Alltagskleidung nicht mehr sehen. Dafür werden wir jedoch – wie jetzt schon die Festtagstracht – die Arbeitstrachten zu konkreten Ereignissen sehen. Die Schleifer Tracht ist eine anlassbezogene Tracht: für die Arbeit, den Kirchgang, für Hochzeiten, bei Trauer und weiteren Anlässen – und das jeweils in denjenigen Varianten, die durch das Kirchenjahr oder gesellschaftliche Gepflogenheiten vorgegeben sind. Zur Brauchtumspflege und besonderen Ereignissen wird die Tracht um Schleife weiter getragen werden, sofern es die Menschen selbst wollen.

Sehen Sie Hoffnung, dass Frauen im Kirchspiel ganz bewusst die Tracht weiter bewahren und pflegen?

Ja. Beispielsweise im Verein Kólesko (Spinnrad), dem ich angehöre, kümmert sich seit Jahren Elvira Hantscho sehr gewissenhaft um Erhalt und Pflege der Tracht. Ihr liegt am Herzen, ihr erworbenes Wissen an die jüngere Generation weiterzugeben. Hoffnung für die Tracht sehe ich vor allem, wenn Frauen tief in sich den Wunsch spüren, Tracht originalgetreu zu tragen. Gute Beispiele sind Angelika Balzke, die zu Veranstaltungen auf dem Hans-Schuster-Hof in Trebendorf die Tracht sorgfältig und akkurat trägt, wie auch Gertrud Hermasch zu Anlässen auf dem Njepila-Hof in Rohne.

Was halten Sie von der „Modernisierung“ der Tracht?

Ich beobachte diese Diskussion um das „Modern-Machen der Tracht“, um das Verändern hin zum Folkloristischen oder zum Vereinfachten. Zunächst wird die Haube weggelassen, dann lässt man weitere Veränderungen zu. Oder es werden Details und Einzelteile entnommen und wird versucht, durch sie an moderner Kleidung einen „Anklang“ von Tracht zu erschaffen. Das hat nichts mehr mit dem Original, mit überliefertem Wissen der sorbischen Vorfahren zu tun. Eben dies ist jedoch wichtig: Rückbesinnung, Bewahrung, Zukunft. Solange es Frauen gibt, die sich ihr Wissen anlesen und ihre Tracht sorgfältig, vollständig und originalgetreu tragen, wird die Tracht nicht nur ein folkloristisches Gewand sein.