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Novemberpogrome vor 85 Jahren: Wie Bautzen Vorhof zur Hölle wurde

Der von Nationalsozialisten gegen Juden gesäte Hass entlädt sich in der Nacht zum 10. November 1938 auch in der Oberlausitz. Das geschah zum Beispiel in Bautzen und Wilthen.

Von Miriam Schönbach
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Das Bild entstand am 10. November 1938 in der Schulstraße in Bautzen. An diesem Tag jagten Bautzener ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn mit „Juda verrecke“-Rufen durch die Stadt.
Das Bild entstand am 10. November 1938 in der Schulstraße in Bautzen. An diesem Tag jagten Bautzener ihre ehemaligen jüdischen Nachbarn mit „Juda verrecke“-Rufen durch die Stadt. © Archivfoto: Museum Bautzen

Bautzen/Bischofswerda. Ihre Peiniger schauen sehr wohl hin, der Junge mit der Schirmmütze am Rand der Fotografie lächelt sogar. Resigniert schreitet dagegen die Gruppe Menschen umringt von Schaulustigen durch Bautzen. Manche im Zug über die Schulstraße tragen Schilder um den Hals. Die Aufschrift „Saujude“ hat der unbekannte Fotograf aus dem Zeitzeugnis getilgt. Das Bild entstand am 10. November 1938. Die Novemberpogrome vor 85 Jahren markieren den Beginn des größten Völkermords in Europa. Brennende Synagogen kündigen die Vernichtung der Juden an.

Bautzen ist nur einer von knapp 60 Orten im heutigen Sachsen, wo es in jenen Novembertagen Ausschreitungen gegen die jüdischen Nachbarn gibt. Deren Vorhof zur Hölle beginnt bereits mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Wenig später folgt der erste offizielle Aufruf zum reichsweiten „Juden-Boykott“. In Bautzen beziehen SA-Leute vor jüdischen Geschäften Stellung, um Einkaufenden den Eintritt zu verwehren. Wer sich widersetzt, wird an der sogenannten Stürmertafel am Amtsgericht öffentlich an den Pranger gestellt.

Antisemitische Hetzrede in "Kronesälen" und Schützenhaus

Die Nürnberger Rassengesetze schaffen 1935 die Grundlagen für den systematischen Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben. Dem ersten Terror schließen sich schnell weitere Restriktionen an. Hagen Schulz schreibt in „Zuhause in Bautzen – Leben und Schicksal Bautzener Juden“, dass in Bautzener Geschäften im Juli 1935 Schilder mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“ zu lesen sind. Zwei Monate später schürt Propaganda-Redner Karl Holz, Schriftleiter der antisemitischen Wochenzeitung Stürmer, in den Bautzener Kronesälen die Angst vor „der jüdischen Weltpest“. Diese Massenkundgebung wird sogar ins Schützenhaus übertragen.

Die Unternehmerin Gertrud Joachimsthal und ihr Bruder Hugo Rosenthal werden am 10. November 1938 in Wilthen gedemütigt. Ein Fotodokument zeigt sie in einem Leiterwagen sitzend unter der Hakenkreuzfahne vor dem Gasthaus „Goldener Engel“.
Die Unternehmerin Gertrud Joachimsthal und ihr Bruder Hugo Rosenthal werden am 10. November 1938 in Wilthen gedemütigt. Ein Fotodokument zeigt sie in einem Leiterwagen sitzend unter der Hakenkreuzfahne vor dem Gasthaus „Goldener Engel“. © Archivfoto: Museum Bautzen

Der Aufruf von Holz lautet: Das jüdische Unkraut müsse aus dem deutschen Boden herausgerissen werden. Die Gestapo führt eine Kartei, die alle Juden für die „Endlösung“ erfasst. Die jüdischen Nachbarn werden aus Schule, Arbeit, Gesellschaft ausgeschlossen, erniedrigt und ausgegrenzt. Der verordnete Antisemitismus schlägt Wurzeln, setzt sich in den Köpfen fest. Der Volkszorn entlädt sich in den Novemberpogromen. In Bautzen, so berichten Augenzeugen, sind am 10. November 1938 ab 7 Uhr Nicht-Uniformierte als Schlägertrupp auf der Reichenstraße unterwegs.

Als Vorwand für jenen Terror nutzen die Nationalsozialisten den Tod des Legationssekretärs an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath. Er wird am Morgen des 7. November 1938 von dem erst siebzehnjährigen Herschel Grynszpan angeschossen. Dessen Eltern zählen zu den etwa 17.000 polnischen Jüdinnen und Juden, die auf Anweisung des SS-Reichsführers Heinrich Himmlers, einer der treibenden Kräfte hinter der Judenverfolgung, an die deutsch-polnische Grenze zwangsabgeschoben wurden.

Die bereits glimmende „antisemitische Glut“ wird mit dem Attentat zum Feuer. Neben den Schlägern auf der Reichenstraße jagen am 10. November auch Bautzener, die Nachbarn von nebenan, die Juden aus ihren Häusern. Die Gedemütigten werden im Garagenhof Brückner, der heutigen Neusalzaer Straße 7, zusammengetrieben. Von dort scheucht der Mob mit „Juda verrecke“-Rufen die meist älteren Frauen und Männer stundenlang durch die Straßen, während andere ihre Wohnungen, Geschäfte und den Gebetsraum - eine Interimssynagoge – im Wohngeschäftshaus in der Töpferstraße 35 verwüsten.

Elise Sussmann kommt ins Vernichtungslager Auschwitz

Die enteignete Bewohnerin Elise Sussmann wird mit Schellen um den Hals an der Spitze des Juden-Zugs durch die Stadt gejagt. Ein Zeuge des Geschehens schildert ihre Demütigung an den Nikolaistufen: „Zwei SA-Männer zwangen sie in die Knie, traten sie mit den Füßen und schlugen sie. Mit lauter Stimme befahlen sie ihr, die Stufen hinaufzukriechen und spotteten über ihren Glauben...“, zitiert Hagen Schulz die erschütternden Erinnerungen. Die ehemalige Rohstoffhändlerin kommt am 3. März 1943 in Berlin auf den 33. Osttransport ins Vernichtungslager Auschwitz. Es ist ihr letztes Lebenszeichen.

Im Bautzener Zug der Diffamierten befinden sich auch Gertrud Joachimsthal und Hugo Rosenthal. Die Geschwister erleben an diesem 10. November gleich eine doppelte Demütigung. Ein Fotodokument zeigt sie in einem Leiterwagen sitzend unter der Hakenkreuzfahne vor dem Gasthaus „Goldener Engel“ in Wilthen. Auf Anordnung des NSDAP-Ortsgruppenleiters Alwin Neumann treiben Wilthener die Eigentümerin einer Scheuertuchfabrik mit ihrem Bruder – einem Invaliden aus dem Ersten Weltkrieg - aus Villa und Betrieb. Nach den qualvollen Stunden lässt der Bürgermeister sie nach Bautzen bringen, wo die Tortur für sie von Neuem beginnt. Bruder und Schwester gelingt 1940 das Auswandern.

Elise Sussmann und die Wilthener Geschwister stehen für zwei Schicksale des nationalsozialistischen Terrors und des Beginns der systematischen Verfolgung der Juden, die knapp drei Jahre später in den Holocaust mündet. Mit dem Völkermord verschwindet das jüdischen Leben auch aus Kirschau, Großharthau, Bischofswerda, Horka, Großröhrsdorf oder Kamenz. Im Andenken an die Torturen finden sich inzwischen zahlreiche Stolpersteine im Landkreis Bautzen. Die Messingbetonquader gegen Hass und Intoleranz haben eine stille Botschaft: Die Verfolgung begann hier, deshalb „Wehret den Anfängen!“

Hier finden am 9. November Gedenkveranstaltungen statt:

  • Gedenkveranstaltung auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Bautzen Muskauer Straße/Jan-Skala-Straße um 14 Uhr mit jüdischem Kaddisch-Gebet (Männer werden gebeten, eine Kopfbedeckung zu tragen),
  • Pogromgedenken an den Stolpersteinen für Elisa Sussmann in der Töpferstraße 35 in Bautzen um 17 Uhr
  • Wider das Vergessen - Andacht im Kloster der Klarissen, Klosterstraße 9 in Bautzen um 19 Uhr;
  • Gedenkgottesdienst in der Kreuzkirche in Bischofswerda, Am Friedhof in Bischofswerda um 18. 30 Uhr