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Wo Kühe einfach Kühe sein dürfen

Vor drei Jahren hat ein Landwirt in Großharthau entschieden, mit der Milchproduktion aufzuhören. Wie es seinen Tieren nun geht. Ein Besuch im Stall.

Von Stella Schalamon
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Bei Irina Wenzel und Pierre Zocher in Großharthau dürfen die Kühe einfach Kühe sein.
Bei Irina Wenzel und Pierre Zocher in Großharthau dürfen die Kühe einfach Kühe sein. © SZ/Uwe Soeder

Großharthau. Ob sich Kühe an etwas erinnern können? Henriette, Irina und Elena würden sich jedenfalls an das hier erinnern: jeden Morgen und jeden Abend am Melkstand warten, gegen den Druck im prallen Euter. Jedes Jahr ein Kalb austragen, es gebären und nach ihm blöken, wenn man es ihnen wegnimmt, damit es die wertvolle Milch nicht allein trinkt. Dazwischen fressen, fressen, fressen, um genug Kraft zu haben.

In manchen Betrieben gibt eine Kuh inzwischen mehr als 40 Liter Milch pro Tag. Dafür muss sie bis zu 120 Liter Wasser trinken und etwa 23 Kilogramm Trockenmasse fressen. Britische Wissenschaftler haben berechnet: Eine Milchkuh braucht ungefähr so viel Energie, wie ein Mensch bräuchte, wenn er dreimal am Tag einen Marathon laufen würde.

Henriette, Irina, Elena und 120 andere Kühe in Großharthau müssen keinen Hochleistungssport mehr betreiben. Landwirt Pierre Zocher und seine Partnerin Irina Wenzel entschieden sich vor drei Jahren: Sie steigen aus der Milchproduktion aus, den Tieren zuliebe.

Auf dem Hof leben 123 Kühe im Ruhestand

Sie molken die Kühe nur noch einmal am Tag, dann nur noch die mit viel Milch, später gar keine Kuh mehr. Sie ließen Zosel, den großen Deckbullen mit den lässig nach hinten gedrehten Hörnern, kastrieren, das letzte Kälbchen kam im Herbst 2020 zur Welt. Sie stellten den Milchtank, der jahrelang tausende Liter Milch fasste, auf die Weide, als Wassertank für die Tiere. Und im Stall entfernten sie die Schlafboxen, in denen die Tiere sich möglichst wenig bewegen sollten, damit keine Energie verloren ging. Doch was bleibt von einem Nutztier, wenn es das nicht mehr ist?

Statt der Schlafboxen gibt es im Stall jetzt eine große Fläche, mit Stroh ausgelegt. Es ist das Winterquartier der Herde. Eine Schwarz-Bunte hat sich hingelegt und ruht sich aus. Ein junger Ochse lässt sich den Nacken von rollenden Bürsten massieren. Zwei andere Kühe neigen tief die Hälse und drücken ihre Stirnen aneinander. Ganz kräftig sind die Tiere inzwischen geworden, nicht mehr so drahtig wie zu der Zeit, als fast alle Energie in die Euter floss. Und die gucken nun kaum noch zwischen ihren Beinen hervor, so klein sind sie und gar nicht prall.

Der junge Ochse Valentino lässt sich den Nacken massieren.
Der junge Ochse Valentino lässt sich den Nacken massieren. © SZ/Uwe Soeder

Am Anfang standen die Kühe weiterhin um halb vier an der Koppel, erzählt Pierre Zocher. Nach und nach habe sich das aber gegeben. "Jetzt sind sie nur noch da", sagt der Bauer. Die Herde soll auf seinem Hof einen schönen Lebensabend verbringen. Fressen. Ruhen. Freundschaften pflegen. Ob sie damit zufrieden sind? "Kühe sind natürlich Arbeitstiere", sagt Irina Wenzel. "Aber im Moment sehen wir nicht, dass ihnen langweilig ist." In den nächsten Jahren werde sich das zeigen – auch, ob sie es vertragen, sich nicht mehr fortzupflanzen.

Das Projekt trägt sich durch Spenden und Patenschaften

Das Projekt hat seinen Preis. Eine Kuh kostet etwa 120 Euro pro Monat: zwei Heuballen, Wasser, Energie, Maschinen, Versicherung, Tierarztkosten. Weil die Kühe ohne die Milchproduktion nichts einbringen, ist der Hof auf Spenden und Patenschaften angewiesen. 100.000 Euro benötigt er jährlich. Ab fünf Euro können Helferinnen und Helfer einsteigen. Wer will, kann sich ein bestimmtes Tier aussuchen.

Jede Kuh habe ihren eigenen Charakter – und ihre Gruppe, davon sind Zocher und Wenzel überzeugt. "Es sind Herdentiere." Jede Kuh wisse, auf welchem Platz sie stehe.

Irina Wenzel krault den Jungochsen Michel hinter dem flauschigen Ohr.
Irina Wenzel krault den Jungochsen Michel hinter dem flauschigen Ohr. © SZ/Uwe Soeder

Da ist Henriette, ein eingekreuztes Fleckvieh, braun mit weißem Kopf. Mit ihren zwölf Jahren ist sie die älteste Kuh der Herde, neun Jahre lang hat sie gut Milch gegeben und ist deshalb vermutlich so alt geworden. Nach Zosel, dem Deckbullen im Ruhestand, ist sie eine der ranghöchsten Kühe. Wenn sie sich draußen auf der Weide in Bewegung setzt, folgen die anderen. Gerade drängt sie sich in ein Grüppchen jüngerer Tiere, die machen ihr Platz. Henriette wuchtet den Kopf in die Gitterstäbe, dass sie klackern, und vergräbt das Maul in der feuchten Grassilage, von den Wiesen hinterm Stall.

Gesundheit der Tiere leidet unter der Milchproduktion

Da sind Irina und ihr Sohn Michel, Simmentaler Fleckvieh. Lange waren sie gemeinsam im Krankengehege des Stalls. Die achtjährige Irina hatte einen Achillessehnenriss, sie läuft deshalb etwas steif, schlürft gerade durstig Wasser aus dem maulgroßen Spender. Michel schleckt mit seiner rauen Zunge an einem Mineralstein. Als männliches Kalb wäre er in der Milchproduktion nichts wert gewesen, man hätte ihn separat gehalten oder an einen Mastbetrieb verkauft. Jetzt ist er einer von 23 Ochsen, die mit der Herde leben dürfen.

Da ist Elena, schwarz-bunt mit kleinem Hornansatz. Der junge Ochse Nilo versucht, aus ihrem Euter zu trinken. Sie hat ihn adoptiert, als es seiner Mutter nach der Geburt von ihm und seinem Zwillingsbruder schlecht ging. Elena hat nur noch eine Klaue, die anderen waren wie bei vielen Milchkühen zu weich, wuchsen zu schnell. Eine Eiterbeule suppt außerdem Elenas Hals entlang. Früher ein Ticket zum Schlachthof.

Eine Kuh wird im Milchbetrieb im Durchschnitt nur fünf bis sechs Jahre alt. Dann "sortiert" man sie aus. Dabei können Kühe durchaus mehr als 20 Jahre lang leben. Irina Wenzel schätzt, dass ihre Kühe es bis zum 20. Lebensjahr schaffen könnten. Wenn nicht die Organe und Gelenke wegen der Überzüchtung vorher schlappmachen.

Eine Kuh verloren sie zuletzt, auch sie hatte Eiterbeulen, bekam eine Sepsis. Wenn ein Tier stirbt, lassen Wenzel und Zocher es noch ein paar Tage im Stall liegen. Die Herde soll Abschied nehmen. Ganz still sei sie dann.

Weitere Informationen zu Patenschaften und Spenden unter: www.herzmuht-fuer-kuehe.de