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Bomben bringen keinen Frieden

Vor 20 Jahren stoppte der Nato-Einsatz die Verbrechen Milosevics im Kosovo. Auch Serben halten die Angriffe deshalb für gerechtfertigt – aber längst nicht alle.

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Schwarzer Rauch steigt in den vom Feuerschein rot erleuchteten Himmel über Belgrad, nachdem Nato-Bomben im April 1999 eine Raffinerie und eine Stickstoff-Fabrik nördlich der jugoslawischen Hauptstadt getroffen hatten.
Schwarzer Rauch steigt in den vom Feuerschein rot erleuchteten Himmel über Belgrad, nachdem Nato-Bomben im April 1999 eine Raffinerie und eine Stickstoff-Fabrik nördlich der jugoslawischen Hauptstadt getroffen hatten. © dpa

Von Thomas Roser, SZ-Korrespondent in Belgrad

Von seinem ums Leben gekommenen Bruder sind Miroslav Medic nur einige Fotos geblieben. Ein eigenes Grab habe Sinisa nicht, seufzt der 54-jährige Serbe, während er in seiner Wohnung im Belgrader Stadtteil Kotez über die Tragödie berichtet, die vor 20 Jahren über seine Familie und sein Land

kamen: „Die Gerichtsmediziner konnten in den Trümmern keinerlei identifizierbare Überreste finden, die wir hätten beerdigen können.“

32 Jahre jung war Sinisa, als am 23. April 1999 der Bombenangriff der Nato auf Serbiens Staatssender RTS den TV-Techniker und 15 seiner Kollegen in der Nachtschicht aus dem Leben riss. „Warum“ prangt auf dem Gedenkstein für die 16 Todesopfer in Sichtweite der Ruine ihres einstigen Arbeitsplatzes. „Warum war es nötig, dass sie starben?“, fragt sich sein älterer Bruder traurig: „Und warum wurde nichts getan, um sie zu schützen – und zu retten.“

In der Nacht, in der Sinisa starb, hatte die Nato Belgrad schon einen Monat lang bombardiert: Die am 24. März 1999 begonnenen Luftschläge sollten den Autokraten Slobodan Milosevic zum Rückzug der Truppen aus Kosovo bewegen. Wie sein Bruder war auch Miroslav als Fernsehtechniker bei der RTS beschäftigt. Von der Nato seien „widersprüchliche Erklärungen“ über einen Angriff auf den Fernsehsender abgegeben worden, berichtet der Familienvater. Tagsüber habe sich die Belegschaft wegen der Anwesenheit ausländischer TV-Korrespondenten sicher gefühlt. Doch wenn nachts die Sirenen heulten, machte sich bei den Technikern zunehmend Verunsicherung breit: „Ein Angriff lag in der Luft.“

Auch bei Luftalarm hätten die Angestellten an ihrem Arbeitsplatz zu verbleiben, so die Anweisung der RTS-Direktion. Im Gegensatz zu anderen TV-Sendern, die ihre Studios in Hotels und Wohnungen verlagerten, setzte der Staatssender auf Beschwichtigung: Falls die Überwachung des Funkverkehrs tatsächlich auf die Gefahr eines Luftangriffs hinweise, würden die Mitarbeiter aus dem Gebäude gebracht.

Doch als 23. April um 2:06 Uhr eine gewaltige Detonation in Belgrad die Fensterscheiben springen ließ, war zuvor niemand gewarnt worden: Nur ein offenbar informierter Reservegeneral hatte seine Tochter in der Nacht rechtzeitig aus dem Gebäude geholt. Auffällig schnell waren die RTS-Direktoren nach dem Einschlag zur Stelle, um die Kameramänner aufzufordern, „so viel wie möglich zu filmen“, erinnert sich Miroslav an die Bombennacht: „Sie hatten den Angriff in der Nähe abgewartet.“ Sein Bruder sei von der Nato „kaltblütig ermordet“ und vom eigenen Staat „nicht geschützt“ worden, ist der TV-Techniker überzeugt: „Sie haben die Leute geopfert, weil ihnen die Bombentoten für ihre Propagandazwecke gelegen kamen.“

78 Tage lang ließ die Nato im Frühjahr 1999 die Bomben auf Serbien und Kosovo prasseln. Die Nato-Partner begründeten den umstrittenen Kriegseintritt ohne UN-Mandat mit der Absicht, weitere Vertreibungen und Kriegsverbrechen der serbischen Truppen an der albanischen Zivilbevölkerung verhindern zu wollen.

Während Serbiens Politiker und Medien bis heute empört die „Nato-Aggression“ als Unrecht geißeln, waren die Bomben nach Ansicht der Menschenrechtsaktivistin Natasa Kandic „unausweichlich“. Nach den Kriegen in Kroatien und Bosnien und dem, „was in Kosovo begann“, musste Serbien „aufgehalten werden“, ist sie überzeugt: „Jemand musste einen Punkt setzen, Milosevic und seine Generäle stoppen, die Zivilisten massakrieren und die Leichen verschwinden ließen, um die Spuren ihrer Verbrechen zu tilgen.“

Als in Belgrad am 24. März 1999 die Sirenen zu heulen begannen, machte sich Kandic per Taxi nach Kosovo auf, um ihren albanischen Mitarbeitern in Pristina bei der Flucht in ein sicheres Nachbarland zu helfen. Das von Polizei- und Militärkräften wimmelnde Pristina sei damals eine sichere Stadt gewesen – „für jeden Serben“: „Albaner sah man kaum auf den Straßen. Ihre Vertreibung hatte schon begonnen.“

Die dramatischen Eindrücke von endlosen Flüchtlingstrecks und Militärkolonnen in Kosovo standen im krassen Kontrast zu den Bildern, die sich ihr in Belgrad boten: „Die Cafés waren voll mit jungen Leuten, die den Krieg im Fernsehen verfolgten. Intellektuelle erregten sich in offenen Briefen über die Bombardierung. Doch was mit den Albanern passierte, wollte niemand wissen, ließ die Leute völlig gleichgültig.“

Von Landsleuten als „Verräterin“ geschmäht, reiste die Frau mit der Pony-Frisur während des Bombardements immer wieder nach Kosovo, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Von Montenegro aus machte sich Kandic nach Abzug der serbischen Truppen im Juni nach Pec auf: „Auf den Straßen lagen Leichen. Die Stadt war ohne Strom. Überall sah man Massengräber und Frauen, die von Friedhof zu Friedhof zogen, um ihre Männer zu suchen.“

Schon bald nach dem Einmarsch der internationalen KFOR-Truppen begann sich im Sommer 1999 das Bild der Gewalt zu drehen. Nun wurde Kosovos serbische Minderheit, aber auch der Kollaboration bezichtigte Roma oder Albaner zu Opfern von Vertreibungen, Morden und Verschleppungen durch Angehörige der kosovarischen Befreiungsarmee UCK.

Die KFOR sei auf ihre Aufgabe kaum vorbereitet gewesen, so Kandic: „Sie wussten nur, dass Albaner die Opfer seien, aber sahen nicht, was mit Kosovos serbischer Minderheit passierte.“

14 Monate nach Kriegsende zwang ein Volksaufstand den Autokraten Milosevic am 5. Oktober 2000 endlich zum Rücktritt. Mit fast neun Jahren Verspätung bescherten die Folgen des Kriegs auch Pristina die ersehnte Unabhängigkeit: Mit Unterstützung des Westens, aber gegen den Willen Serbiens erklärte der zunächst jahrelang von der UN verwaltete Kosovo im Februar 2008 die Eigenstaatlichkeit.

Die Nato-Bomben stoppten die Kriegsmaschinerie von Milosevic, aber brachten den versöhnungsunwilligen Kriegsgegnern keinen echten Frieden. Noch immer blockiert Belgrad mit Hilfe Moskaus die Aufnahme Kosovos in internationale Organisationen wie die UN, den Europarat oder selbst Interpol – und gleichzeitig sich selbst: Ohne eine zumindest faktische Anerkennung der Ex-Provinz hat Serbien auf den ersehnten EU-Beitritt keine Chance.

13.145 Menschen verloren nach Erhebung der überregionalen Bürgerinitiative Rekom im Kosovokrieg ihr Leben: Von den 10.334 zivilen Opfern waren 8693 Albaner und 1 196 Serben. Mit dem Kriegseintritt der Nato stiegen die Opferzahlen. Doch während Belgrad noch immer von 3000 Opfern der Bombardierung spricht, liegt deren Zahl laut Rekom deutlich niedriger. Durch Nato-Bomben verloren in Kosovo 488, in Serbien 260 und in Montenegro zehn Menschen ihr Leben: Nato-Sprecher prägten damals den zynischen Begriff der „Kollateralschäden“.

Ein Strauß gelber Blumen liegt unter dem Gedenkstein im Park. Sein Bruder Sinisa habe weder einen Helm oder Waffe getragen, „noch irgendjemand bedroht“, sagt Miroslav Medic: „Die Bombardierung war ein furchtbares Verbrechen.“