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Wie kam Uropa nach China?

Abenteuerlust treibt den Seesoldaten Karl Kockisch 1912 ans andere Ende der Welt. 100 Jahre später liest seine Urenkelin in Karsdorf den Reisebericht.

Von Jörg Stock
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„Mancher erklärte mich für verrückt.“ Karl Kockisch (heller Kreis) lässt sich 1912 aus dem heimeligen Kiel ins Schutzgebiet Kiautschou in Ostchina versetzen.
„Mancher erklärte mich für verrückt.“ Karl Kockisch (heller Kreis) lässt sich 1912 aus dem heimeligen Kiel ins Schutzgebiet Kiautschou in Ostchina versetzen. © privat

Der Schreibtisch des Opas. Schwer und düster und verheißungsvoll, wie eine Schatztruhe. Darin jede Menge Nippes. Als sie noch klein war, erzählt Corinna Fischer, war dieses Möbelstück im Haus der Großeltern ihr Anziehungspunkt, ihre Fundgrube. Am liebsten spielte sie mit einer kleinen, langhaarigen Nixe. Und mit einem mattgoldenen Steuerrad. Dass es sich dabei um einen Zigarrenabschneider handelte und außerdem um ein Souvenir vom größten Abenteuer ihres Urgroßvaters hat sie erst viel später verstanden.

Ein Stückchen Deutschland am Gelben Meer

Dieser Urgroßvater hieß Karl Gottlieb Kockisch, war Soldat des Kaisers, und sein Abenteuer hieß Kiautschou, ein Gebiet an der Ostküste Chinas gelegen, am Gelben Meer, hinter dem schon Korea anfängt, und bald auch Japan. Von Kockischs Heimatstadt Dresden liegt der Ort etwa 8.000 Kilometer Luftlinie entfernt. Und doch ist er damals ein Stück vom Wilhelminischen Reich, 550 Quadratkilometer groß, abgetreten von den Chinesen unter dem Zwang deutscher Kanonen. Kiautschou soll Flottenbasis und Handelsplatz sein, und ein Schaufenster deutscher Lebensart. Kiautschou soll eine Musterkolonie werden.

Hütet die Souvenirs aus China: Corinna Fischer aus Karsdorf, die Urenkelin von Karl Gottlieb Kockisch.
Hütet die Souvenirs aus China: Corinna Fischer aus Karsdorf, die Urenkelin von Karl Gottlieb Kockisch. © Egbert Kamprath

In dem alten Bauernhaus der Fischers, das am oberen Ende von Karsdorf an der Bundesstraße steht, haben verschiedene Spuren von Uropa Karls chinesischer Reise überdauert. Das Steuerrad zum Beispiel. In seiner Nabe rotiert eine Klinge, die wohl noch immer Zigarrenspitzen abschnipseln könnte. Auf dem Schild am Fuß steht „Prinzregent Luitpold“. Der Reichstpostdampfer dieses Namens brachte den Gefreiten Kockisch nach seinem Dienst in der Kolonie zurück nach Deutschland.

Wettlauf zum "Platz an der Sonne"

Außerdem gibt es gestickte Bilder: Chinesinnen beim Tee und bei der Handarbeit. Auch eine Vase mit Wald und Bergen darauf hat überlebt. Das Wichtigste aber ist ein unscheinbares Schreibheft mit schwarzem Deckel – Karls Tagebuch. „Mit einfachen, nicht ausgesuchten Worten habe ich, so gut ich konnte, die Reise beschrieben“, steht auf der ersten Seite, dazu eine Warnung vor zu hohen Erwartungen, „damit Ihnen, geehrte Leserinnen und Leser, Enttäuschungen erspart bleiben.“

1897 besetzte die Kaiserliche Marine die Kiautschou-Bucht in Ostchina.
1897 besetzte die Kaiserliche Marine die Kiautschou-Bucht in Ostchina. © SZ Grafik

Das Tagebuch lag auch im Schreibtisch. Heinz, Corinnas Opa, hat es ihr in die Hand gedrückt, als er aus dem Bauernhaus samt Tisch ins betreute Wohnen umzog. Bei ihr sei es besser aufgehoben, fand er. Corinna Fischer war von der Lektüre, entgegen den Befürchtungen des Schreibers, keineswegs enttäuscht. Sie fand darin Charakterzüge ihrer Familie wieder, sagt sie, vom Vater, vom Opa, und auch von sich selbst – Lebenslust, Optimismus, Entdeckerfreude. Beim Lesen fühlte sie sich ihrem Vorfahren nahe. Er hat die Chance genutzt, seine Sachen gepackt, ist einfach losgezogen. „Das finde ich cool.“

Das Vorspiel zu Karl Gottliebs großem Abenteuer bildet der Wettlauf der europäischen Mächte um weltweite Imperien, die „Plätze an der Sonne“. Den Kolonisierten bringen die neuen Herren Erniedrigung, Ausbeutung, oft genug den Tod. Das frisch gegründete Deutsche Kaiserreich macht zunächst nicht mit. Kanzler Bismarck, auf Defensive und Ausgleich bedacht, hält Kolonien für unnötigen Luxus.

Karl Kockisch (3.v.l.) 1909, kurz vor Antritt seines Militärdienstes, als Mitglied der Spielabteilung beim Turnverein Dresden-Pieschen.
Karl Kockisch (3.v.l.) 1909, kurz vor Antritt seines Militärdienstes, als Mitglied der Spielabteilung beim Turnverein Dresden-Pieschen. © privat

Doch die Stimmung im Land dreht sich. Koloniebesitz gilt vielen als nationales Prestige und als Quell neuen Reichtums. Man will nicht zurückstehen gegen die Konkurrenz, etwa durch England. So beginnt 1894 mit der Landnahme in Afrika der Aufbau des wilhelminischen Weltreiches.

Tod der Missionare bringt die Schlachtschiffe

Das will auch in China einen Fuß in die Tür kriegen. Als 1897 zwei deutsche Missionare von Chinesen getötet werden, schickt Wilhelm II. ein Kreuzergeschwader zur Kiautschou-Bucht, mit der man des milden Klimas und der guten Ankerplätze wegen schon lange liebäugelt. Landungstruppen besetzen die Gegend. Aus der Okkupation wird 1898 ein Pachtvertrag. Die Truppen aber bleiben, rund 2.400 Mann. Fortan pendeln Charterschiffe und Postdampfer zwischen den Nordseehäfen Deutschlands und Kiautschou, um der Garnison Ablösung zu bringen.

Tsingtau, die Hauptstadt des Schutzgebiets Kiautschou, etwa 1914. Hier der Badestrand in der Auguste-Viktoria-Bucht.
Tsingtau, die Hauptstadt des Schutzgebiets Kiautschou, etwa 1914. Hier der Badestrand in der Auguste-Viktoria-Bucht. © Militärhistorisches Museum der Bundeswehr

Zu dieser Zeit ist Karl Kockisch noch ein Schuljunge. Geboren 1890, Vater Weichensteller, Mutter Hausfrau, lebt er mit sechs Geschwistern in einem Hinterhaus in Dresdens Norden. Bei M.H. Wendschuch lernt er den Beruf des Bandagisten, stellt medizinische Hilfsmittel wie Schienen, Bandagen, Korsetts und Prothesen her, zur Zufriedenheit des Meisters. Kockisch habe sich treu, ehrlich, fleißig und geschickt bewiesen, er könne ihn als einen brauchbaren Gehilfen „jedermann bestens empfehlen“, steht im Lehrbrief vom Oktober 1907.

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Was sonst passiert im Leben des jungen Karl ist unbekannt. Einziger Anhaltspunkt sind wenige versprengte Fotos im Schreibtisch von Heinz, der jetzt 96-jährig in Bannewitz lebt. Auf diesen Bildern ist sein Vater Karl Kockisch 1909 als Mitglied der Spielabteilung des Turnvereins Dresden-Pieschen zu sehen und als Teilnehmer von Wanderfahrten in die Sächsische Schweiz.

Kiautschou wird von 2.400 Soldaten gesichert. Hier Kameraden von Karl Kockisch vom III. Kaiserlichen Seebataillon bei einer Gefechtsübung.
Kiautschou wird von 2.400 Soldaten gesichert. Hier Kameraden von Karl Kockisch vom III. Kaiserlichen Seebataillon bei einer Gefechtsübung. © privat

Im November 1910 wird Karl Kockisch Soldat. Er rückt beim I. Seebataillon in Kiel als Ersatzrekrut ein. Die Seebataillone sind die Infanterie der Kaiserlichen Marine, die zum Schutz der Kriegshäfen eingesetzt wird. So ist das III. Seebataillon in Kiautschou stationiert.

Endlich raus aus der Langeweile

Karl Kockisch aber sitzt in der Kieler Kaserne fest. Im Sommer 1912 hat er mehr als die Hälfte seines dreijährigen Dienstes abgerissen. Für einen Einsatz in Ostasien, der in der Regel zwei Jahre dauert, ist er schon zu lange dabei. Doch dann gibt es Probleme mit dem Ersatz. Zu viele Jüngere sind anderweitig kommandiert. Altgediente dürfen sich für China melden, vorausgesetzt, sie wollen freiwillig länger Soldat sein.

Karl Kockisch brachte viele Fotos vom chinesischen Alltagsleben mit nach Hause. Dieses Bild trägt die Unterschrift "Zum Markt".
Karl Kockisch brachte viele Fotos vom chinesischen Alltagsleben mit nach Hause. Dieses Bild trägt die Unterschrift "Zum Markt". © privat

Karl Kockisch, seines ruhigen Postens als Bursche bei einem Leutnant überdrüssig, meldet sich umgehend. „Mancher erklärte mich für verrückt“, notiert er ins Tagebuch. „Ich dagegen war glücklich, endlich meinen langgehegten Wunsch in Erfüllung gehen zu sehen, war ich doch froh, endlich einmal aus der langweiligen Garnison zu kommen.“

Lesen Sie in Teil 2 der Serie: Reise! Reise! Der Reichspostdampfer „Goeben“ wird Kockischs neue Heimat.