Gesundheitswesen: Auf DDR-Mangel folgte Kommerz

Ein Perspektiven-Beitrag von Peter Kästner*
Seit dem erstmaligen Auftreten von Sars-CoV-2 Ende 2019 in China und seiner pandemischen Verbreitung sind dieses Virus, seine Auswirkungen und die Folgen der getroffenen Abwehrmaßnahmen zum beherrschenden Thema in allen Lebensbereichen geworden. Besonders die medizinische Betreuung unter den pandemischen Bedingungen ist in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten. Inzidenz, Bettenauslastung mit Vorwarn- und Überlastungsstufe, Belegung der Intensivstationen und Pflegepersonalmangel sind Begriffe, denen man täglich in den Medien begegnet. Eine solche enorme Aufmerksamkeit konnte das Gesundheitswesen noch nie verzeichnen. Dabei gab es in der Vergangenheit in der medizinischen Betreuung der Bevölkerung durchaus kritische Phasen.
Trotz zahlreicher Mängel, wie lückenhafte medikamentöse Versorgung, fehlende Medizintechnik, Personalmangel und marode Baulichkeiten, kam es in den letzten Jahren der ehemaligen DDR zu keinem Zusammenbruch in der medizinischen Versorgung. Dies war in erster Linie ein Verdienst der ärztlich Tätigen, aber auch des mittleren medizinischen Personals, das verantwortungsvoll und mit überdurchschnittlichem Einsatz den regulären Arbeitsablauf in den Gesundheitseinrichtungen aufrechterhielt.
Nach der friedlichen Revolution 1989 und dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland 1990 kam es in den ostdeutschen Ländern zu tiefgreifenden Veränderungen, die nahezu alle Lebensbereiche betrafen, vom persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld über Arbeit und Bildung bis zur sozialen und medizinischen Betreuung. Auch die ambulante medizinische Versorgung der Bevölkerung, die während der DDR-Zeit in erster Linie in staatlichen Gesundheitseinrichtungen stattfand, veränderte ihre Strukturen.
So standen 1989 den rund 1.640 in staatlichen Arztpraxen und 18.930 in Polikliniken und Ambulatorien arbeitenden Medizinern lediglich 400 Ärzte in eigener Niederlassung gegenüber. Dank des Engagements der Ärztinnen und Ärzte in den staatlichen Arztpraxen konnte die Betreuung der Patienten ohne große Unterbrechung in freien Praxen und Gemeinschaftspraxen fortgesetzt werden. Meist wurden Mitarbeiter, Räumlichkeiten und Patienten übernommen, Mobiliar und medizinisches Gerät weitergenutzt oder kreditfinanziert modernisiert.
Die Initiativen zu dieser Umgestaltung der ambulanten Behandlungseinrichtungen gingen in erster Linie von den betreffenden Ärztinnen und Ärzten aus, wobei natürlich erleichternde Rahmenbedingungen geschaffen wurden und ideelle und praktische Hilfe aus den alten Bundesländern unter anderem seitens ärztlicher Kollegen, deren Standesorganisationen, Pharmafirmen erfolgte. Die personalintensiveren Polikliniken, die in der DDR neben der medizinischen Diagnostik und Therapie auch Aufgaben in der Prophylaxe, Nachsorge und Begutachtung von Krankheiten zu erfüllen hatten, wurden als systemspezifische Relikte des zerfallenen Staates angesehen. Eine Zerschlagung dieser Einrichtungen schien damals unumgänglich.
Bis 1995 galt ein Bestandsschutz. Auch die Poliklinik-Ärzte versuchten, ihre Sprechstunden mit dem bisherigen Personal und ihren Patienten in eigenen Praxen, Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften weiterzuführen, häufig unter dem Dach eines sogenannten Ärztehauses. Letzteres bot – obwohl anders strukturiert – die Nutzung mancher Vorteile der nunmehr diskreditierten, ehemaligen Polikliniken wie zum Beispiel konzentrierte Behandlungsmöglichkeiten für die Patienten, schnelle Inanspruchnahme anderer Fachrichtungen, Synergismen durch gemeinsame Nutzung von Räumen, medizinischen Geräten und Personal.
Es gab jedoch auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Polikliniken, die ihre bisherige Arbeit nicht mehr fortsetzen konnten oder wollten. Dazu gehörten Ärzte in bereits ausreichend besetzten Fachrichtungen, Fürsorgerinnen, Verwaltungsangestellte, Gemeindeschwestern und technische Mitarbeiter. Diese reihten sich in das Heer der Arbeitslosen ein und mussten nach neuen Betätigungsfeldern suchen. Die Umgestaltung dieser ehemals staatlichen Gesundheitseinrichtungen entwickelte eine derartige Dynamik, dass innerhalb kurzer Zeit die dominierende Rolle von Polikliniken, Ambulatorien und staatlichen Arztpraxen völlig verloren ging. Die Betreuung wurde im Wesentlichen von der niedergelassenen Ärzteschaft getragen. Dass diese gewaltige Umstrukturierung ohne wesentliche Einschränkungen in der medizinischen Versorgung der neuen Bundesländer einherging, ist als eine großartige Leistung der Medizinerinnen und Mediziner sowie deren Mitarbeiter zu bewerten und anzuerkennen.
Die neu errungenen Freiheiten wirkten dabei sicherlich euphorisierend. Mit der Niederlassung gingen die Mediziner nämlich nicht unerhebliche finanzielle Risiken ein, mussten sich von heute auf morgen mit völlig unbekannten Leistungsbewertungssystemen und einer Vielzahl an Versicherungsträgern mit unterschiedlichen Regelungen vertraut machen, vom Umgang mit der verwirrenden Anzahl an bislang unbekannten Medikamenten ganz zu schweigen.
Natürlich gab es Unterstützung in Form von Schulungen, Materialien und Beratungen durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV), ärztliche Verbände, pharmazeutische und medizintechnische Firmen sowie Krankenkassen. Trotzdem hatten die bislang angestellt Tätigen plötzlich nicht mehr nur als Arzt ihre Patienten zu betreuen, sondern auch als Unternehmer, Betriebswirtschaftler und Personalchef zu fungieren. Der Aufwand für Bürokratie stieg an und diese Zeit fehlte in der unmittelbaren Patientenbetreuung. Aber auch am Arzt-Patienten-Verhältnis gingen die neuen gesellschaftlichen Bedingungen nicht spurlos vorüber.
Während in der DDR Mangelwirtschaft, Improvisationsvermögen und individuelles Engagement der Ärztinnen und Ärzte Diagnostik und Therapie bestimmten, so kennzeichneten jetzt Vielfalt und moderne Medizintechnik in bislang ungekanntem Ausmaße Diagnostik und Therapie in den Praxen. Allerdings beeinflussten zunehmend auch ökonomische Faktoren die ärztliche Behandlung. Das waren zum Beispiel falsche Anreize setzende Leistungsbewertung, quartalsweise wechselnde, erst nachträglich berechnete Leistungsvergütung, Budgetierung von medizinischen Leistungen, Wirtschaftlichkeitskontrollen. Das schlug sich in der Wahl von Diagnostik und Therapie nieder und wirkte sich damit indirekt auf das Arzt-Patienten-Verhältnis aus.
Auch die in den Praxen angebotenen IGEL-Leistungen trugen zum damaligen Zeitpunkt nicht zu einer Verbesserung des Arzt-Patienten-Verhältnisses bei. Mit IGEL-Leistungen bezeichnete man individuelle Gesundheitsleistungen, die der Versicherte selbst zu zahlen hatte, da sie von den Krankenkassen nicht getragen wurden. Hinzukamen übernommene gesetzliche Maßnahmen der alten Bundesrepublik, deren stringente, undifferenzierte Durchsetzung in den oft noch nicht voll etablierten Praxen der neuen Bundesländer zu zusätzlichen Problemen führten. Dazu gehörte beispielsweise die Trennung des Fachgebietes Innere Medizin in einen Hausarzt- und einen Facharzt-Bereich mit entsprechenden Leistungsbeschränkungen und deutlichen Vergütungsunterschieden.
In den nachfolgenden Jahren zog die Computer-Technik in den Praxen ein und erleichterte manche Arbeitsgänge. Heute ist die Digitalisierung in der täglichen Arbeit unentbehrlich geworden, ob bei der Dokumentation, der Rezepterstellung und der Leistungsabrechnung oder dem Praxis-Management, der Archivierung, der Medizintechnik und der Telemedizin. Trotz dieser Fortschritte ist ein Problem in der ambulanten Medizin seit vielen Jahren nicht zu übersehen: der Ärztemangel, insbesondere im Hausarzt-Bereich, obwohl die Gesamtzahl der Ärzte pro Einwohner kontinuierlich angestiegen ist.
- Peter Kästner, 1941 in Dresden geboren, war als Facharzt für Innere Medizin Chef einer Poliklinik und von 1992 bis 2009 Internist mit eigener Praxis. Sein Buch "Mit Skalpell und Stethoskop im Marcolini Palais" ist kürzlich im Verlag Fabian Hille (Dresden) erschienen. Der Roman thematisiert die Umgestaltung einer Poliklinik in ein Ärztehaus sowie dessen Zerfall.
- Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.