Von Sidney Gennies
Der Mann will reden über das, was niemand verstehen kann. Oder niemand verstehen will, so sieht er das. Darüber, wie man an dieser Pandemie verzweifeln kann und sich plötzlich auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen vor dem Reichstag wiederfindet. Inmitten von Rechtsextremen, Reichsflaggen, Esoterikern, Verschwörungsideologen.
Der Mann will nicht, dass dieser Text erscheint. Jedenfalls nicht mehr. Weil er Angst hat vor den Folgen, einerseits. Weil er den Medien nicht mehr vertraut und weil er längst seine eigene Wahrheit hat, die dort nicht wiedergegeben wird, andererseits.
Deswegen müssen in diesem Text alle Details verfremdet werden, die auf die Identität des Mannes und sein Umfeld schließen lassen. Deswegen kann dies nicht seine Geschichte sein. Es ist der Versuch, eine Gedankenwelt nachzuvollziehen, die ich nicht teilen kann.
Sein Name soll hier Paul Reimann sein, er ist älter als 50, noch mitten im Berufsleben. Vater, Großvater, Berliner von Geburt an. Seine Freundin hat ihm von Anfang an abgeraten, mit der Presse zu sprechen.
Und doch sitzt Paul Reimann an einem Tag im Corona-Jahr 2020 vor einem Berliner Café und spricht. Er hört gar nicht mehr auf. Mehr als sechs Stunden wird das Gespräch am Ende dauern. Man spürt, es hat ihm lange niemand mehr zugehört. Und das, findet Reimann, ist Teil des Problems.
Am Anfang steht die Angst. Sie kommt im Februar 2020 in Paul Reimanns Leben. Über die Tagesschau, den Tagesspiegel, jene Medien, die er damals noch regelmäßig verfolgt. Von den ersten Covid-19-Fällen in Deutschland ist da die Rede. Von Toten – und von viel Ungewissheit. Reimann erinnert sich, dass er seine Tochter anruft. Er weiß, sie will an jenem Tag mit dem Enkel etwas unternehmen. Er habe, sagt er seiner Tochter, so viel Gefährliches gehört und so viel sei noch unklar. Ob sie nicht lieber zu Hause bleiben wolle.
Die Angst wird immer größer
Übertreib mal nicht. Das sei ihre Reaktion gewesen. Sie wird sich später an diesen Satz erinnern, als ihr Vater schon längst zu den Kritikern der Pandemiemaßnahmen zählt, sich Demos anschließt und Vater und Tochter beginnen, das Thema, so gut es geht, aus ihren Gesprächen herauszuhalten. Als die Sprachlosigkeit sich in die Familie einschleicht.
Die Angst vor dem Virus lässt Paul Reimann nicht mehr los. Angst um seine Kinder, um die Enkel, um sich selbst. Sie wird größer mit jeder Meldung, mit den vielen Zahlen, die er längst nicht mehr einordnen kann. Er lernt neue Vokabeln. R-Zahl, Inzidenzwert, FFP3, Mund-Nasen-Schutz. Lockdown.
Er hört sie von Leuten, die er vorher nicht kannte. Plötzlich sind Lothar Wieler und Christian Drosten ständige Begleiter. Mehr noch. Was die Männer da im Fernsehen sagen, scheint irgendwie Gewicht zu haben. Was sie vorschlagen, wird Politik. Wer hat die gewählt?
Wuhan, Bergamo, New York. Krankenschwestern, die zusammenbrechen, Särge über Särge in den Nachrichten. Reimann zieht sich alles rein. Er füttert die Angst, bis sie stärker ist als er selbst. Es sei, sagt Reimann, ein Zustand totaler Erschöpfung gewesen.
Die Frauen und Männer, die Reimann im Fernsehen sieht, spenden keinen Trost. Sie verkünden Maßnahmen.
Zoom-Call, der. Er kriegt das nicht hin, von zu Hause arbeiten. Die Technik überfordert ihn. Und er kann sich nicht motivieren. Im Job, in dem er seit vielen Jahren angestellt ist, muss er Vorbild sein. Aber er weiß doch selbst nicht mehr weiter. Er meldet sich krank.
Es ist nicht so, dass Paul Reimann schwach wäre. Es ist vielleicht eher eine Frage, wie viel ein Mann aushalten will.
Er hatte etwas, das man unbedingt als schwere Kindheit bezeichnen muss. Ohne Eltern. Und wenn sie doch da waren, war es noch schlimmer. Viele Geschwister, wenig Geld. So erzählt er es.
Die da oben verkünden, er da unten folgt
Als junger Mann jobbt Paul Reimann, mal hier, mal dort. Immer ganz nah dran an den Reichen und Schönen, zum Niedriglohn in einer Welt, die so wenig mit seiner eigenen Lebensrealität zu tun hat. Da lernt er früh, dass es Leute gibt, die wichtiger und einflussreicher sind als andere. Und dass für sie scheinbar andere Regeln gelten.
Jedenfalls fällt ihm das im Shutdown wieder ein. In all der Zeit, die er jetzt hat und mit der er nichts anzufangen weiß. Die da oben verkünden, er da unten folgt. Das kennt er doch schon. Ist er denn der Einzige, der davon die Schnauze voll hat?
Paul Reimann geht ins Internet. Recherchieren, sagt er. Er guckt bei den „etablierten Medien“, wie er sie jetzt nennt. Aber da sitzen nur wieder die in den Talkshows, die immer da sitzen. Die Minister und die Kanzlerin und die Herren Professoren und Virologen und alle, so sieht er das, sind sich so sicher und haben nur diese eine Botschaft, die ihn so müde macht: Das Virus ist gefährlich.
Wo waren denn, überlegt Reimann im Café laut, die ganzen Friseurinnen? Die Kellner? Leute wie er. Warum hat die niemand gefragt, was sie denken?
Sie wurden gefragt. Bei seiner Recherche stolpert er über Videos von KenFM und RT-Deutschland. Dort kommen Leute zu Wort, denen es geht wie ihm. Sie leiden unter der Pandemie, sie teilen seinen Schmerz. Und sie haben keine Antworten. Sie haben Zweifel.
Zweifel, ob nicht die Maßnahmen viel gefährlicher sind als das Virus. Zweifel, ob wirklich so viele Menschen sterben. Zweifel, ob man überhaupt Angst haben muss.
Wer Zweifel hat, muss nichts beweisen. Wo Zweifel ist, wird eine andere Wirklichkeit denkbar. Wie schön die jetzt wäre.
Und da, sagt Reimann im Café, fing sie an: die Ausgrenzung.
Kinder hören irgendwann nicht mehr zu
Er versucht, die Zweifel mit seinen Kindern zu diskutieren. Das Virus gebe es, er sei kein Leugner. Aber er hat das Gefühl, nicht die ganze Wahrheit zu kennen, dass er im Netz auf Mosaikstücke gestoßen ist und wenn er sie nur richtig zusammensetze, werde alles Sinn ergeben. Per Whatsapp schickt er seinen Kindern Nachrichten.
Ob sie wüssten, dass es nur die Alten treffe. Dass viele, die an Covid-19 sterben, vermutlich sowieso gestorben wären. Ob sie nicht auch das Gefühl hätten, dass die Isolation die Menschen voneinander entfremdet. Und diese Masken, da hätten doch selbst die Wissenschaftler erst das eine und dann das andere gesagt.
Die Kinder schicken Nachrichten zurück. Zunächst. Mit Zeitungsartikeln, die seine Zweifel widerlegen.
Reimann recherchiert weiter, wochenlang. Verschickt nun seinerseits Links zu Artikeln von den Medien, denen er jetzt vertraut. Spricht auch Freunde und Bekannte darauf an. Die Reaktionen seien aggressiv gewesen.
Papa, das sind doch Verschwörungstheorien.
Ihm ist, als formuliere jeder schon das Gegenargument, während er noch spreche. Er probiert es weiter. Immer wieder.
Papa, wenn du jetzt nicht aufhörst, lege ich auf.
Sie hätten ihn beschimpft, sagt Reimann. Er sei fassungslos gewesen. Irgendwann werden die Antworten seiner Kinder seltener. Bekannte sagen Verabredungen mit ihm ab, als man sich im Sommer wieder treffen darf. Keine Eskalation. Sie wollen einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben. Reimann schickt wieder Nachrichten an seine Kinder. Es gebe jetzt überall Demonstrationen gegen die Maßnahmen. Das mache ihn nachdenklich. Er wolle hingehen.
Papa, du hast doch am Anfang selbst noch gesagt, bleib auf Abstand!
Papa, das kannst du nicht machen.
Papa, wirst du jetzt Reichsbürger?
Dann nichts mehr. Und Reimann denkt: Nicht mal meine eigenen Kinder hören mir noch zu.
Schlaflos vor der Demo
Ein Sohn bricht den Kontakt bis auf Weiteres ab. Die Tochter gibt ihm zu verstehen, dass er sie in Ruhe lassen soll. Das Thema hat keinen Platz mehr in ihren Gesprächen, aber Reimann treibt wenig so um, wie das. Wenn sein Enkel ihn nun fragt, warum die Menschen Maske tragen, kann er nicht antworten. Seine Wahrheit darf er nicht sagen, und verleugnen will er sich nicht.
Auch seine Freundin will das Thema lieber meiden, es zehrt an der Beziehung, doch beide halten daran fest.
Mit dem Sohn will er nicht brechen. Aber seine Nachrichten haben ihn verletzt. Er, ein Nazi? Er, der sich immer für die Schwächeren eingesetzt hat?
Der Termin der Demonstration rückt näher. Alle, die er kennt, raten ihm davon ab, beschwören ihn, nicht hinzugehen. Hatten sie das nicht genau so vorhergesagt auf den Websites, die er jetzt regelmäßig besucht?
Die Mosaikstücke, die er im Netz findet, werden derweil dringlicher. Von Corona-Diktatur ist da nun die Rede, von Unterdrückung und Mächtigen, die im Hintergrund arbeiten. Hatten nicht sein ganzes Leben lang immer Mächtige auf Kosten von Menschen wie ihm Profite gemacht?
Vier Tage lang, sagt Reimann, habe er vor der Demo nicht schlafen können. Er ringt mit sich. Allein. Denn er hat niemanden mehr. Und er beschreibt ein Gefühl, von dem er vermutet, dass es viele Menschen haben und sich nur nicht auszusprechen trauen. Dass nämlich alle Momente, in denen er glücklich war, in der Vergangenheit liegen, die Gegenwart hält er kaum aus, und die Zukunft macht ihm Angst. Er will etwas tun. Er muss. Irgendwas.
Er sagt, er habe in jenen Nächten Folgendes gedacht: Wenn ich jetzt aufgebe, dann stelle ich alles infrage, was ich bisher gemacht habe. Dann bin ich ein meinungsloser Bürger dieses Landes, der alles mit sich machen lässt. Und er wolle nicht die Angst vor dem Virus nun ersetzen durch die Angst vor der Zurückweisung. Er wolle endlich wieder mutig sein.
Er sagt, er wolle seinen Enkeln in 20 Jahren sagen können, dass er etwas unternommen habe. Er sagt, er wolle gehört werden, gesehen werden.
Und die Reichsbürger auf den Demos, die werden gesehen.
Und so steht Reimann an jenem Tag im Sommer auf der Demonstration in Berlin in der Nähe des Reichstages. Die Stimmung ist aggressiv. Auf der einen Seite grölen die Rechtsextremen. Auf der anderen die Gegendemonstranten: „Halt die Fresse, halt die Fresse!“ Dazwischen die Polizisten. Und Reimann.
Einige Tausend Menschen sind nach offiziellen Angaben an diesem Tag auf der Demo. Reimann glaubt, es war eine halbe Million.
Wer würde einem Guru nicht folgen?
Und er sieht so viele verschiedene Menschen. Menschen in bunten Gewändern und Kostümen, normale Menschen. Und die vielen Kinder. Die müssten doch Angst haben, denkt er. Wie er früher. Er sieht sich um, aber rückblickend, sagt Reimann, sei ihm klar geworden, dass es die Erwachsenen sind, die Hilfe brauchen.
Auch die Rechtsextremen. Nur weil sie hier sind, Seite an Seite mit ihm, heiße das nicht, dass er mit deren Ideen sympathisiere. Die, die spalten, das seien die Medien, die Menschen einsortierten in Kategorien. Niemand aber frage, warum die Menschen wirklich hier seien. Reimann ist sicher, was sie alle verbinde, sei die große Verunsicherung.
Er könne, sagt Reimann, auch einem Ken Jebsen oder einem Attila Hildmann nicht folgen. Er sehe doch, dass die sich auch ihre Wahrheit herauspicken, er wieder nicht das ganze Bild bekomme. Dass sie hetzen, Menschen in Kategorien einsortieren. Nur andere als der Mainstream. Das will er nicht.
Und es wundert ihn, dass da nicht längst ein Guru aufgetaucht ist, der den Menschen sagt: Habt keine Angst. Ich führe euch aus der Scheiße raus. Würde er so einem folgen?Wer würde nicht?
Er nimmt sich vor, so lange vor dem Reichstag auszuharren, bis er Antworten bekommt von den Politikern, ob die Menschheit dem Virus wirklich so hilflos gegenübersteht. Er kriegt keine. Viele Stunden bleibt er dort. Dann geht er nach Hause. Völlig entkräftet, aber mit neuer Lebenslust, die er noch Wochen später spürt. Nicht mehr ohnmächtig. Nicht mehr allein.
Nach dem Gespräch im Café verabreden wir ein weiteres Treffen. Zum vereinbarten Zeitpunkt taucht Reimann am Verlagsgebäude nicht auf. Stattdessen teilt er mit, er habe meinen Namen gegoogelt und einige frühere Artikel gelesen. Unter anderem ein Essay, in dem ich darlege, warum die Frage der Maske so erbarmungslos verhandelt wird und dass ein Mund-Nasen-Schutz, der nur unterhalb der Nase getragen wird, kein guter Kompromiss sei. Dazu zitiert der Text die damals aktuellen Covid-Fallzahlen und nennt auch die Anzahl der Toten in Berlin.
Er sei enttäuscht. Wichtige Informationen würden weggelassen, die Informationen über die Maske seien nicht beweisbar. Ich könne wohl nicht frei schreiben, mir würden Dinge in die Feder diktiert. Er bleibt dabei stets ruhig und freundlich. Die Notizen aus dem Gespräch solle ich vernichten.
Reimann ruft nicht an. Er schickt diese Botschaft per Whatsapp als Sprachnachricht. Darin sagt er auch, warum: Er möchte nicht unterbrochen werden.