Von Mareike Huisinga, Heike Sabel und Alexander Müller
Einen Tag nach der schweren Explosion in der Chemiefabrik in Pirna-Neundorf stehen die Einwohner noch immer unter Schock. Verbogene Bleche, zerfetzte Dämmung, Stahlschrauben und Maschinenteile liegen in den Vorgärten, auf den Gehwegen und am Straßenrand. Normales Leben – undenkbar. Überall stehen Nachbarn in Grüppchen und unterhalten sich leise. Ihre Gesichter sind ernst.
Der Tag nach der Explosion in Pirna-Neundorf
Havarie in Chemiefabrik in Pirna
An der Tür des Bäckers hängt ein Schild „Heute geschlossen“. Die Bäckerei befindet sich rund 200 Meter von der Fabrik entfernt. Noch näher am Explosionsort liegt das Haus von Yvonne Lehnert. Sie wird den 1. Dezember 2014 nie vergessen. „Ich war gerade im Schlafzimmer, um aufzuräumen, da hörte ich eine riesige Detonation“, erzählt sie. Sofort lief sie nach draußen, sie dachte, ihre Heizungsanlage im Hinterhaus sei explodiert. „Dann sah ich einen gelben Feuerball über der Fabrik. Es war taghell. Ich wusste sofort Bescheid.“
Den Unfall bezahlte ein Mitarbeiter des Betriebs mit seinem Leben, vier wurden schwer verletzt in Kliniken gebracht. Nachbarin Yvonne Lehnert ist nichts passiert, ihr Mann und ihre Tochter waren nicht zu Hause. Die Frau rannte sofort zu ihrer Nachbarin, einer älteren Dame, die allein wohnt. „Aufgrund der Druckwelle hatte sich ihre Tür so verkeilt, dass sie ohne Hilfe nicht herausgekommen wäre“, erzählt Lehnert. Sie befreite die Nachbarin und fuhr mit ihr zu Freunden nach Cotta. Übernachten konnte sie mit ihrer Familie bei ihrem Bruder, der am Dorfausgang von Neundorf wohnt. Die Detonation hat die Fenster in Lehnerts Hinterhaus zerstört. Sie befürchten Risse in den Wänden. „Ich gehe davon aus, dass die Versicherung der Chemiefabrik den Schaden regulieren wird“, sagt Yvonne Lehnert. Zunächst denkt sie aber an die Menschen, die durch die Explosion verletzt wurden und an den Mitarbeiter, der im Feuer starb.
Besonders schwer sind die Schäden am Haus der Familie Dietrich. Ihr Garten grenzt direkt an das hintere Fabrikgelände, wo die Explosion stattfand. Monika Dietrich sah die Feuerwolke und dachte sofort: unser Haus. Sie war unweit bei Verwandten und rannte wie um ihr Leben. Einer ihrer Söhne war zu Hause geblieben. Was sie sah, war wie ein Schock: Fenster und Türen kaputt, das Dach hatte auch etwas abbekommen. Auf der Wiese vor dem Haus lagen Reste von Holz- und Plasteverkleidungen, zerborstene Fensterscheiben, Dachteile und -ziegel. Der Sohn war zur Zeit des Unglücks im Haus. Ihn hatte die Druckwelle hin- und hergeschmissen. Er dachte, das Haus fällt über ihm zusammen. Übernachtet haben die Dietrichs in der Nacht zu gestern in einem Pirnaer Hotel. Die beiden erwachsenen Söhne blieben im Haus, hielten Wache.
Hilfe von vielen Seiten
Gestern standen Zeitungs- und Fernsehreporter vor dem Haus. Dietrichs Hausärztin kam vorbei und erkundigte sich. Verletzt wurde in ihrer Familie niemand. Sie warteten gestern auch auf den Gutachter, denn sie wollen schnell Dach, Fenster und Türen reparieren lassen, damit nicht noch größere Schäden entstehen. Getroffen hat es auch das Haus von Volker Hesse. Die Detonation deckte einen Teil des Daches ab. Ziegelsteine liegen jetzt in seinem Garten. Fassungslos steht er vor dem Chaos. Nachbarn kommen dazu, und kritische Stimmen werden laut. „Schon immer haben wir uns gefragt, warum sich eine Chemiefirma mitten im Dorfkern so vergrößern darf. Das ist zu gefährlich“, sagt Hesse. Zustimmung kommt von Siegfried Lehnert. Er weist auf die großen Mietshäuser am Ortseingang. „Das ist doch ein Witz, hier preist die Wohnungsgesellschaft ihre leeren Wohnungen am Gottleubapark an, und hundert Meter davon entfernt fliegt die Fabrik in die Luft“, sagt der 74-Jährige. Andere nicken.
„Immer schon gab es auch Lärmprobleme wegen der Produktion und Anlieferung für die Firma. Es hieß dann, die Firma habe Bestandsschutz. Wir wurden von den Behörden und der Firma nicht ernst genommen“, stellt Achmed Schindler aus Neundorf fest. Alle fordern: Jetzt muss sich etwas ändern, damit die Neundorfer wieder ohne Angst leben können.
Spezialisten versuchen derzeit, das Unglück aufzuklären. Der Tote konnte zwischenzeitlich geborgen und identifiziert werden. Bei ihm handelt es sich nach Polizeiangaben um einen 37 Jahre alten Mann. Die vier schwer verletzten Mitarbeiter im Alter von 22, 25, 34 und 53 Jahren werden in verschiedenen Krankenhäusern behandelt. Gestern Vormittag untersuchten Kriminalbeamte der Polizeidirektion Dresden sowie Spezialisten des Landeskriminalamtes den Unglücksort. Auch eine Drohne kam zum Einsatz.