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Leipziger Ausstellung: Die DDR als schönes schreckliches Leseland

Eine Leipziger Ausstellung erinnert an geliebte Kinderbücher, Krimis und Klassiker aus der DDR, an unerfüllte Wünsche und verlorene Verlage.

Von Karin Großmann
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Berliner Kleingartenszene im Sommer 1986. Dieses Foto ist jetzt neben vielen anderen Momentaufnahmen in der Ausstellung „Leseland DDR“ zu sehen.
Berliner Kleingartenszene im Sommer 1986. Dieses Foto ist jetzt neben vielen anderen Momentaufnahmen in der Ausstellung „Leseland DDR“ zu sehen. © Günter Bersch/Bundesstiftung Aufarbeitung

Der Personenkult der Stalinzeit ist gerade vorbei, da legt sich der Ingenieur eines Traktorenwerks ganz vorsichtig mit der Parteileitung an. Er kämpft um höhere Arbeitsmoral. Darum geht es im Sowjet-Roman „Schlacht unterwegs“. Warum sich eine Urlauberin an der Ostsee gerade für diese Strandlektüre entscheidet, wird wohl immer ein Rätsel bleiben. Der Mann neben ihr mit der Zigarette in der Hand liest vermutlich nichts, was gegen das Rauchen spricht. Hätte es ein solches Buch überhaupt gegeben?

Das Barfußfoto vom Paar am Strand von 1963 begleitet die Ausstellung „Leseland DDR“ im Leipziger Stadtmuseum. Großformatige Leuchttafeln erörtern unterschiedliche Aspekte: Krimi, Kochbuch, Kinderliteratur und die ostdeutsche Buchwelt im Allgemeinen: „Was waren das für wunderbare Zeiten für die Literatur!“ Menschen standen Schlange an Buchhandlungen, stürmten die Bücherbasare bei großen Festen oder pflegten ihr Talent in Zirkeln schreibender Arbeiter. Profidichter lernten das Handwerk am Leipziger Literaturinstitut, einer einzigartigen Hochschule. Schriftsteller wurden von ihren Lesern geliebt, waren als Lebensratgeber gefragt, und manche genossen Privilegien wie etwa Reisen ins nichtsozialistische Ausland. Vorausgesetzt, sie hielten sich an die politischen Spielregeln.

Sommer 1963. Irgendwo an der Ostsee. Eine Frau liest die 1962 in der DDR veröffentlichte Übersetzung des sowjetischen Romans „Schlacht unterwegs” von Galina Nikolajewa.
Sommer 1963. Irgendwo an der Ostsee. Eine Frau liest die 1962 in der DDR veröffentlichte Übersetzung des sowjetischen Romans „Schlacht unterwegs” von Galina Nikolajewa. © Bundesstiftung Aufarbeitung

Was waren das für schreckliche Zeiten für die Literatur, „in denen jedes gedruckte Wort einer strengen Zensur unterlag!“. Auch davon berichtet die Ausstellung. Sie verklärt nichts und verteufelt nichts, sondern hält die Balance. Das ist nicht selbstverständlich beim Blick zurück. „Mit der Literatur öffnete sich ein kleines Reich der Freiheit, es öffneten sich geistige Horizonte“, sagt der Historiker und Publizist Stefan Wolle, der die Ausstellung konzipierte. „Für viele Ostdeutsche waren Bücher ein Überlebensmittel.“

Wolle beschreibt einen zentralen Widerspruch: Einerseits legte die DDR mit der Parole von der gebildeten Nation viel Wert auf die Buchproduktion – die Preise für Bücher wurden staatlich subventioniert, so war etwa ein Band aus der noblen Bibliothek deutscher Klassiker für fünf DDR-Mark zu haben. Andererseits reichte die Papierzuteilung nie für begehrte Titel – laut einer Umfrage von 1983 bekam nur jeder sechste Kunde seinen Kaufwunsch im Buchhandel erfüllt. Ganz oben auf dem Wunschzettel standen Alexander Wolkow, Karl May, Emile Zola, Maxie Wander und Stefan Zweig. Bei der Feier der Volkspolizei 1952 schenkte der Weihnachtsmann einer Jungpionierin den Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski. Auf dem Foto sieht man sie freundlich lächeln.

Als man mit Lesungen noch viel Publikum locken konnte: Stefan Hermlin (1. v.l.) und Günter de Bruyn (2. v.l.) 1989 bei einer Veranstaltung der Friedensbewegung in der Erlöserkirche Berlin-Rummelsburg.
Als man mit Lesungen noch viel Publikum locken konnte: Stefan Hermlin (1. v.l.) und Günter de Bruyn (2. v.l.) 1989 bei einer Veranstaltung der Friedensbewegung in der Erlöserkirche Berlin-Rummelsburg. © www.ostkreuz.de

Manche Werke waren nur als Bückware unterm Ladentisch zu haben und viele gar nicht. Heinrich Böll war mit seinem Anti-Springer-Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ in der DDR willkommen. Doch sein Buch „Ansichten eines Clowns“ kam auf den Index wegen einer ironischen Randbemerkung über Staatschef Walter Ulbricht. Solche Details vermittelt die Ausstellung mit über hundert Fotografien und anderen Dokumenten. QR-Codes führen zu Video-Interviews mit Verlegern wie Christoph Links oder Politikerinnen wie Petra Köpping. Der Bürgerrechtler Rainer Eppelmann spricht über Veränderungen im Kochbuch: „Bestimmte Gewürze, die ich heute jederzeit nehme, tauchen da gar nicht auf, weil die wahrscheinlich so viele Devisen gekostet haben, dass man sie nicht eingeführt hat.“ Doch der Küchenklassiker „Wir kochen gut“ steht bis heute im Programm beim Verlag für die Frau.

Am Fußende jeder Schautafel ist ein Regalmeter Buch abgebildet aus der Sammlung von Peter Sodann in Staucha. Meistens korrespondieren die Titel mit dem Thema der Tafeln. Als Beispiele für „Giftschrank“-Literatur stehen Franz Fühmann und Victor Klemperer allerdings falsch. Viel mehr fürchteten die DDR-Oberen den geistigen Sprengstoff sowjetischer Dissidenten wie Alexander Solschenizyn oder George Orwells „1984“.Doch mit ein paar Tricks wurde auch das beschafft: Die Ausstellung erzählt von Grenzschmuggel und vom Diebstahl auf der Leipziger Buchmesse unter den hilfreich geschlossenen Augen westdeutscher Verlagsleute.

Nur wenige Verlage überstanden den Ausverkauf

Bei der Internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig richtete sich mancher Besucher häuslich ein und las sich durch Werke, die sonst nicht zu haben waren. Schriftsteller entdeckten andere Nischen. Kurator Stefan Wolle erklärt das am Beispiel der Kinderliteratur: „Hier konnte man dezent politisch sticheln und seine Ideale in Märchen verpackt vermitteln.“ Die Kinder freuten sich, wenn tapfere Ritter und kluge Prinzessinnen den dummen König besiegten. „Und die Erwachsenen dachten sich ihren Teil.“ Ähnliche Lücken fanden sich in Krimis oder in der Science-Fiction-Literatur. Hier wird zum Beispiel das SF-Lexikon des Dresdner Autors Erik Simon gezeigt.

Leipzig ergänzt die Wanderausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur durch regionale Aspekte. Erinnert wird an das dortige Grafische Viertel, von dem außer Straßennamen und der Edition Peters nichts blieb. Der Musikverlag zählt zu den wenigen Überlebenden der ostdeutschen Verlagslandschaft. Von den ehemals 78 staatlich lizenzierten Verlagen der DDR überstand ein knappes Dutzend den Ausverkauf durch die Treuhand. Reclam Leipzig wurde Ende 2006 aus dem Handelsregister gelöscht. In Vitrinen liegen preisgekrönte Exemplare wie Walter Rheiners „Kokain“ mit Illustrationen von Conrad Felixmüller, ein Standardwerk zum Expressionismus. Ausstellungsmacher Stefan Wolle verdrückt „eine melancholische Träne“ angesichts solcher Buchkunststücke. Seine Erinnerung gilt einem Land, „dessen Obrigkeit an die Macht des geschriebenen Wortes glaubte und es zugleich fürchtete“.

„Leseland DDR“ im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, bis 18. Juni, geöffnet Di bis So, 10 bis 18 Uhr