SZ + Feuilleton
Merken

Neue "Tagesthemen"-Moderatorin Wellmer: „Ich wünsche mir oft, in das Land meiner Eltern zurückzureisen“

Die Älteren lassen aus Selbstschutz kaum Kritik an der DDR zu, die Jüngeren wagen keine Nachfragen. Jessy Wellmer plädiert für mehr Offenheit in der Ost-West-Debatte – auf allen Seiten.

 11 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Jessy Wellmer, 43, wuchs auf im mecklenburgischen Güstrow. In mehreren Filmen beschäftigt sich die ARD-Moderatorin, die mit ihrer Familie in Berlin-Charlottenburg lebt, mit ihrer ostdeutschen Herkunft.
Jessy Wellmer, 43, wuchs auf im mecklenburgischen Güstrow. In mehreren Filmen beschäftigt sich die ARD-Moderatorin, die mit ihrer Familie in Berlin-Charlottenburg lebt, mit ihrer ostdeutschen Herkunft. © rbb/beckground tv

Von Robert Ide

Frau Wellmer, sind Sie ein Ossi?

Puh. Ich definiere mich nicht nur über meine Herkunft. Ich bin Mutter von zwei Kindern, die in Charlottenburg aufwachsen, und mit einem gebürtigen Westdeutschen verheiratet. Ich pendle für meine Arbeit zwischen Köln und Berlin, bin als Sportjournalistin von Sibirien bis Rio de Janeiro gereist.

Ist es also egal?

Nein. Ich war zwar noch ein Kind, als die DDR verschwand. Aber ich merke: Ich werde meine Herkunft nicht los. Je älter ich werde, desto mehr beschäftigt mich die Umbrucherfahrung meiner Familie und all der Leute in meiner ostdeutschen Blase. Diesen Hintergrund haben Kinder westdeutscher Eltern nicht.

Und jetzt, in Zeiten der Krisen, beginnen Wunden wieder zu schmerzen, die schon fast verheilt schienen. Vielleicht war der Redebedarf, den wir gerade erleben, immer da, aber die Menschen haben ihn unterdrückt.

Beim Mauerfall waren Sie neun. Wie lange hängt das Thema den Ostdeutschen noch in den Knochen?

Jüngere Ostdeutsche leben heute oft in einer krassen Ambivalenz: Empathie für die ältere Generation bei gleichzeitiger Ablehnung eines Schönredens der DDR. Viele Ältere drücken sich vor kritischen Fragen, selbst wenn sie von den eigenen Kindern kommen. Und auch ich habe mich lange gescheut nachzuhaken.

Ältere halten mir entgegen: Was weißt du denn schon mit deinem kleinen bisschen DDR-Vergangenheit? Sie klagen, dass sie ständig von Westdeutschen bevormundet werden. Bei mir ist es eher so, dass mich ältere Ostdeutsche bevormunden, die mir ihre Erinnerung an die DDR überstülpen wollen und keine Zweifel daran zulassen.

Viele Menschen wollen ihr Leben vor sich selbst rechtfertigen. Warum machen sie das von dem Staat abhängig, in dem sie zwangsweise leben mussten?

Genau. Weshalb verharmlosen Menschen im Nachhinein den Unterdrückungsstaat? Sie hatten doch selbst früher Angst vor der Willkür der SED. Ich glaube, eine kritische Betrachtung der DDR wird oft als Angriff auf das eigene Leben empfunden. Und dann wird, in der Abwehr kritischer Fragen zum Früher, von einigen sogar noch der russische Krieg gegen die Ukraine mitlegitimiert. Ich wünsche mir oft, in das Land meiner Eltern zurückzureisen, um zu hören, wie die Menschen damals geredet haben. Aber das Land ist nicht mehr da.

Am Montagabend läuft in der ARD Ihre Reportage „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“. Ist dieses Wir nicht genau das Problem – dass sich Ostdeutschland in Abgrenzung zum Westen definiert?

Das habe ich extra gemacht.

Extra, weil es falsch ist?

Nein. Viele definieren ihre Ost-Identität tatsächlich in der Abgrenzung zum Westen. Das finde ich falsch und destruktiv. Aber in dem Wir stecken ja nicht nur Ostalgiker und Menschen, die den Westen für ihr Unglück verantwortlich machen, sondern auch die Regimegegner von 1989 und die, die die gewonnene Freiheit schätzen und verteidigen – auch ich. Das Wir im Osten muss nicht heißen, dass wir uns alle einig sind. Der Osten ist sehr vielfältig.

Im Film erzählen Menschen, dass sie mehr arbeiten müssen fürs gleiche Geld, dass sie sich immer noch diskriminiert fühlen, dass sie kaum etwas erben. Handelt es sich also eher um ein soziales Problem?

Natürlich muss man die strukturellen Unterschiede – wenig vererbbares Vermögen, kaum Führungspositionen für Ostdeutsche, ein weiter bestehendes niedrigeres Lohnniveau – beklagen. Es sind aber zum Teil auch gelernte Narrative, die gar nicht mehr hinterfragt werden. Es gibt beispielsweise seit diesem Sommer keinen Unterschied mehr zwischen Ost- und Westrente. Trotzdem ist mir das bei den Arbeiten am Film als Vorwurf immer noch begegnet.

Oder: Es gibt auch im Westen ein Lohngefälle. Ich glaube, dieses heutige Gefühl der Benachteiligung rührt mindestens so sehr aus den Demütigungserfahrungen in der Wendezeit. Wenn dann die Flüchtlingskrise oder Corona oder der Krieg dazukommen, sagen viele Menschen: Der Westen entscheidet schon wieder über unsere Köpfe hinweg und hört uns nicht zu; er hat es eigentlich nie getan.

Warum tun sich die Ostdeutschen so schwer mit der Demokratie, die sie sich erkämpft haben?

Es gibt auch viele, die tun sich gar nicht schwer mit der Demokratie. Und sie haben diese Demokratie in der DDR sehr herbeigesehnt. Aber viele sind 1989 nicht auf die Straßen gegangen und haben für die friedliche Revolution gekämpft – nicht unbedingt aus Treue zur DDR, sondern auch aus Angst, Unsicherheit oder Unwissenheit.

Nach dem Mauerfall wurde alles sehr schnell überlagert von dem Wunsch nach D-Mark und schneller Einheit. Dann beginnt für viele schon die Zeit der Verunsicherung und der Demütigungsgefühle und der schmerzlichen Erfahrungen mit Abzockern aus dem Westen. Und es fehlte die Erfahrung, dass Demokratie oft ein mühsamer Aushandlungsprozess ist.

Wäre denn alles gut, wenn sich der Westen für die Treuhand entschuldigt?

Der Westen wird sich nicht entschuldigen. Dem Westen ist der Osten inzwischen eigentlich egal. Die meisten beschäftigen sich gar nicht mit den Themen, die im Osten so viele bewegen. Ich glaube, das ist weder Vorsatz noch Böswilligkeit, sondern Gedankenlosigkeit. Es ist der klassische Scherz: Diese Erfahrungen sollten wir bei der nächsten Wiedervereinigung berücksichtigen.

Wie haben Sie Ihre Kindheit in Güstrow erlebt?

Ich wollte immer nach Berlin, hab in der zehnten Klasse ein Austauschjahr in Neuseeland gemacht. Wenn bei den Partys im Studentenkeller „Kling Klang“ lief, dann habe ich mit meinen Freundinnen eine Stelle am lautesten mitgesungen: „Bloß von hier weg – so weit wie möglich!“ Heute bin ich wieder gern in meiner Mecklenburger Heimat.

Sie kamen mit 19 nach Berlin. Gibt es hier den Osten noch?

Keine Ahnung. Ist Köpenick wirklich noch Osten? Ich landete 1999 in Prenzlauer Berg. Das war zwar ein Ost-Berliner Bezirk, aber Spuren gab es hier nur noch rudimentär: die letzte Kneipe, die Oma im Erdgeschoss, kleine Institutionen – das war’s. Dann habe ich auch noch einen Westdeutschen geheiratet und bin erst nach Kreuzberg und dann nach Charlottenburg gezogen.

Und Mama hat zu Hause gefragt: Muss das denn sein?

Nee! Ich war verliebt. Und da spielte es keine Rolle, ob Ost oder West. Alles andere wäre ja auch blöd.