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Was ostdeutsche Großeltern ihren Enkeln von der DDR erzählen

In vielen Familien wird über den DDR-Alltag geschwiegen. Die Autorinnen des Buches „Es ist einmal“ brachten Großeltern und Enkel darüber ins Gespräch. Für viele zum ersten Mal.

Von Oliver Reinhard
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In öffentlichen Debatten über die DDR geht es meistens um Verfolgung und Unterdrückung. Das "normale Leben" hingegen kommt darin kaum vor - auch nicht in Familienerzählungen. Das sollte sich ändern, finden die Autorinnen des neues Buchs.
In öffentlichen Debatten über die DDR geht es meistens um Verfolgung und Unterdrückung. Das "normale Leben" hingegen kommt darin kaum vor - auch nicht in Familienerzählungen. Das sollte sich ändern, finden die Autorinnen des neues Buchs. © SZ/Gunter Hübner (Archiv)

Wer von seinem alltäglichen Leben in der DDR erzählt, bekommt oft zu hören: „Aber das war doch eine Diktatur!“ Stimmt, sagen Dörte Grimm und Sabine Michel. Aber auch die Alltagsgeschichten brauchen einen Platz in den Erzählungen über die DDR. Vier Jahre nach ihrem Buch „Die anderen Leben“ über Gespräche zwischen ostdeutschen Eltern und ihren Kindern haben die beiden Autorinnen und Filmemacherinnen nun in „Es ist einmal“ Großeltern und Enkeln zum Miteinander-Reden gebracht. Wir sprachen mit der Pritzwalkerin Dörte Grimm über die Gründe für das Schweigen und darüber, wie wichtig es ist, diese Stille zu brechen.

Frau Grimm, warum haben Sie nach Ihrem Buch „Die anderen Leben“ über Gespräche von ostdeutschen Kindern mit ihren Eltern nun noch eins über Enkel und deren Großeltern nachgelegt?

Für „Es ist einmal“ haben wir uns einerseits auf Themen konzentriert, die wir mit „Die anderen Leben“ noch nicht abgebildet hatten, wie jüdisches Leben und das der Vertragsarbeiter in der DDR, aber auch Kriegs- und Nachkriegserfahrungen und daraus entstandene Traumata, Alkoholismus und Missbrauch in der Familie. Aber besonders hat uns interessiert, wie Erinnerung funktioniert und wie anders sie zwischen Großeltern und Enkeln weitergegeben wird.

Für solche Gespräche braucht es Vertrauen. Wie haben Sie das hergestellt?

Vor jeder Begegnung gab es eine ganze Reihe Vorgespräche. Es ging uns ja nicht darum, einfach mal alles zu erzählen, was unsere Gesprächspartnerinnen in der DDR und in den Neunzigern erlebt haben. Wir wollten wissen: Was waren die einschneidendsten Ereignisse, was sind die roten Erzähllinien in der jeweiligen Familie, was haben die Erfahrungen der Großeltern überhaupt noch mit der Enkelgeneration zu tun und umgekehrt? Nicht zuletzt haben wir uns wie in „Die anderen Leben“ entschlossen, unsere Gesprächspartner zu anonymisieren. Das war vor allem bei der älteren Generation ein wichtiger Türöffner.

Nach ihrem Buch "Die anderen Leben" über Gespräche zwischen ostdeutschen Kindern und deren Eltern brachten Sabine Michel (l.) und Dörte Grimm jetzt Großeltern und Enkel an einen Interview-Tisch.
Nach ihrem Buch "Die anderen Leben" über Gespräche zwischen ostdeutschen Kindern und deren Eltern brachten Sabine Michel (l.) und Dörte Grimm jetzt Großeltern und Enkel an einen Interview-Tisch. © Bebra-Verlag

Auffällig ist: Die meisten Gesprächspartner standen der SED-Politik distanziert bis ablehnend gegenüber. Zufall?

Wir haben wieder Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen getroffen. Vielleicht ist es aber mit dem Abstand der Zeit jetzt eher möglich, sich differenzierter zu äußern. Der Grad der Systemferne ist bei vielen auch sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht von Kritik und Distanz bis zur offenen Ablehnung.

Mich erstaunt, dass sehr viele Erlebnisse, die Großeltern im Buch schildern, gar nicht so besonders DDR-spezifisch sind. Gerade die Folgen des Zweiten Weltkriegs bis hin zu den Traumata lassen sich genauso für Menschen in der alten Bundesrepublik feststellen.

Wir wollten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zeigen und die rein ostdeutsche Perspektive von „Die anderen Leben“ mit dem neuen Buch aufbrechen und bereichern. Das war auch der Grund, die Enkelgeneration mit ins Boot zu holen, die die DDR gar nicht mehr erlebt hat. Sie haben schon eine gesamtdeutsche Perspektive. Aber oftmals sind ihnen die Verbindungslinien zwischen ihrem Leben und dem der Großeltern vorher gar nicht bewusst gewesen. Ihnen war nicht klar, wie sehr die Erfahrungen der Großeltern ihre Eltern geprägt haben und damit letztlich auch sie selbst prägen. Aber es gibt natürlich auch Unterschiede.

Welche vor allem?

Im Westen hat es mit dem Aufkommen der Achtundsechziger-Generation eine andere gesellschaftliche Aufarbeitung gegeben, die den Blick zurück erheblich prägt. Und im Osten waren gerade die Jahre der Transformation nach dem Mauerfall für viele eine Zeit großer Enttäuschungen und extremer Verunsicherungen. Das Buch ist ja während der Corona-Krise entstanden, und es war für uns sehr interessant zu sehen, ob und welche Parallelen es in der Wahrnehmung dieser Krisen gegeben hat. Es scheint, als wären viele Ostdeutsche durch ihre Erfahrungen in den Neunzigern ganz anders damit umgegangen als Westdeutsche. Aber wirklich überraschend war für uns die Wucht der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen und deren Auswirkungen auf das Leben der Großeltern. Damit hatten wir nicht gerechnet. Und darin liegt etwas, was Großeltern und ihre Enkel stark verbinden kann.

Inwiefern?

Wenn früher Oma und Opa vom Krieg erzählt hatten, war das für die Enkel immer etwas sehr Fernes und Abstraktes; sie kannten so etwas ja nicht. Aber seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dem Beginn eines Krieges in Europa sind plötzlich Verbindungen da zwischen der Kriegsangst der Großeltern und der Kriegsangst ihrer Enkel. Das hat uns extrem bewegt. Und wenn man sieht, auch in den Gesprächen im Buch, wie lange Kriegstraumata in Familien wirken und nur durch Gespräche oder sogar Therapien vielleicht ein wenig besser bewältigt werden, liest sich das für mich im Endeffekt wie eine Art Appell für den Frieden, aber auch für die Demokratie.

Nun gab es in der Bundesrepublik und in der DDR jeweils eine große Nachkriegserzählung, in der sich viele wiederfinden konnten. Im Westen war das die Erzählung der guten unschuldigen Massen, die von den bösen schuldigen Nazis missbraucht worden sind, in der DDR die vom plötzlichen Wandel einer Gesellschaft von mehrheitlichen Faschisten in ein Kollektiv von Antifaschisten. War beides ähnlich verlogen?

Ja. Und beides ist ähnlich schiefgegangen. In der DDR gab es nur die große Gegenerzählung zum Westen, in der die Geschichten vieler Menschen gar keinen Platz hatten. Die Überbetonung des Klassenkampfes und des Antifaschismus war wie eine Decke, unter die jeder schlüpfen konnte, aber darunter waren keine individuellen Erzählungen möglich, an die man in der Familie hätte anknüpfen können. Schon gar nicht darüber, wie man sich selber bis 1945 verhalten hat, wo man vielleicht etwas falsch gemacht hat und mitverantwortlich war.

Auch das ist im Westen ja erst nach 1968 und sehr allmählich geschehen.

Richtig, in der DDR blieb da aber eine Leerstelle, die in vielen Menschen eine undifferenzierte Haltung ausgelöst hat und dazu verlockt, sich auch weiterhin nicht mitverantwortlich zu fühlen für das, was geschehen ist und weiter geschieht. Es war und ist aber sehr wichtig, das überhaupt einmal zu thematisieren, anzusprechen und darüber zu reden, gerade in den Familien: Wie habe ich in der DDR gelebt, was hat das mit mir gemacht, wie habe ich mich verhalten, wie stehe ich heute dazu?

Nur wenige Interviewpartner schreiben der DDR auch positive Seiten zu. Das kann doch nicht repräsentativ sein?

Meistens geschieht es in den von uns organisierten Gesprächen überhaupt zum ersten Mal, dass Familienmitglieder über das Leben in der DDR reden und die Jungen ihren Eltern und Großeltern Fragen stellen. Die Geschichten über die DDR werden in den Familien oft anekdotisch weitergegeben, ohne dass es zu irgendwelchen Nachfragen oder Reflexionen darüber kommt.

Warum ist das so?

Sabine und ich glauben, dass dieses Erzählen über das glückliche Leben in der DDR, das es ja für viele Leute auch wirklich gegeben hat, nach wie vor mit sehr viel Scham besetzt ist. Und wenn du dein eigenes Erleben in den öffentlichen Diskursen über die DDR nicht wiederfindest, die sich ja meistens um das Unterdrückungssystem drehen, hast du das Gefühl, irgendwie würden in irgendeiner Art Scham und Schuld an dir kleben bleiben, wenn du dich auch positiv über dieses Leben äußerst.

Betrifft das flächendeckend die ganze Thematik Ostdeutschland?

Uns erscheint es so. Die Geschichten darüber stehen oft unversöhnlich nebeneinander. Auf der einen Seite die Erzählungen von Freundschaften, Kultur, Urlaub an der Ostsee und einem Staat, der sich für dich um alles kümmert. Auf der anderen Seite die Erzählungen von Unterdrückung, Verfolgung, Jugendwerkhöfen und so weiter. Wir müssen aus diesen Schubladen raus. So eine gespaltene Erinnerung ist für viele Menschen nur schwer auszuhalten. Und es gibt noch immer keinen gesellschaftlichen Konsens, dass man, wenn man nicht in irgendwelche Konflikte mit der Obrigkeit geriet, auch schöne Lebenserfahrungen in der DDR gemacht haben kann.

Weil dann oft der Einwand kommt: Aber es war doch eine Diktatur?

Richtig. Bundespräsident Steinmeier hat anlässlich des 30. Vereinigungsjubiläums gesagt, dass die deutsche Einheit erst vollzogen ist, wenn die Alltagsgeschichten der DDR in den Kanon der Geschichtserzählung Deutschlands eingehen. Damit bezeichnet er das Defizit sehr gut. Das Erzählen, die Auseinandersetzung darüber muss aber zuerst in den Familien geschehen. Es kommen jetzt immer mehr junge Menschen auf ihre Eltern und Großeltern zu und fragen eben: Wie könnt ihr in einem Land glücklich gelebt haben, in dem es Mauer, Diktatur und Jugendwerkhöfe gab?

Wie lösen Sie diesen Konflikt für sich persönlich auf?

Ich gehöre der Generation an, die noch Kinder waren, als die Mauer fiel. Dass die DDR ein Unterdrückungsstaat war, habe ich persönlich noch gar nicht erfahren können. Meine Kindheit in der DDR war glücklich, ich bin total behütet aufgewachsen, war viel im Wald, hatte Spaß als Jungpionier und Thälmannpionier. Als ich elf war, kam die Wende, die Transformation – und in der Zeit, in der mein Körper sich veränderte, weil er erwachsen wurde, drehte sich das ganze Gesellschaftssystem um, mit den bekannten Verwerfungen. Und ich glaube, dass viele Menschen damals wie heute in ihren Verunsicherungen und Ängsten eine Verbindungslinie in ihre DDR-Vergangenheit ohne solche existenziellen Ängste ziehen und das oft zur DDR-Verklärung führt.

Warum tut es das bei Ihnen nicht?

Ich wollte einfach wissen, wie das Leben in der DDR wirklich war, auch für Erwachsene, auch für Menschen, die nicht angepasst gelebt haben. Ich habe mich viel damit auseinandergesetzt, aber es war auch für mich schwierig, mich von meinem Kindheitsbild der glücklichen DDR zu lösen und zu erkennen, dass es politisch kein freies Land war, im Gegenteil. Ich habe all diese Kontrollmechanismen nicht gespürt, trotzdem waren sie ja da, und sie haben gewirkt, und unzählige Menschen haben darunter gelitten. Das ist oft ein langer Weg, bis man das wirklich erkennen kann, damit muss man sich schon intensiv auseinandersetzen. Man muss es aber vor allem auch wollen.

Der falsche Adorno-Spruch „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ wurde viel auf die DDR gemünzt. Das scheint immer noch eine Menge Schaden anzurichten …

Das hat er und das tut er. Natürlich waren Alltag und Diktatur untrennbar miteinander verknüpft. Aber bei den meisten Erzählungen, in Artikeln, in Medien und Filmen steht das System im Vordergrund, nicht das alltägliche Leben der Menschen in der DDR. Wir müssen das als Gesellschaft aber unbedingt aushalten, diese Geschichten endlich zu akzeptieren und auch mal nebeneinander stehenzulassen. Und darauf zu vertrauen, dass sie sich automatisch ergänzen. Uns kommt es manchmal vor, als hätten wir gesellschaftlich verlernt, einander zuzuhören und uns unsere Geschichten zu erzählen. Genau dafür wollen wir mit unseren Gesprächen zwischen Großeltern und ihren Enkeln einen Beitrag leisten. Denn wenn man die Vergangenheit nicht kennt, ist keine Zukunft möglich.

Buchtipp: Dörte Grimm / Sabine Michel, Es ist einmal. Ostdeutsche Großeltern und ihre Enkel im Gespräch. Bebra-Verlag, 200 Seiten, 20 Euro