Feuilleton
Merken

Wer die DDR-Diktatur verharmlost, verrät die Freiheit

Wer heute die SED-Diktatur verharmlost, verrät die Freiheit. Deshalb brauchen wir dringend mehr Aufklärung über die DDR. Ein Gastbeitrag.

 7 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Alles so schön bunt und friedlich? Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten – hier die Ausgabe von 1973 – waren ein wichtiges Aushängeschild des SED-Regimes.
Alles so schön bunt und friedlich? Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten – hier die Ausgabe von 1973 – waren ein wichtiges Aushängeschild des SED-Regimes. © dpa-Zentralbild

Von Ilko-Sascha Kowalczuk

Unlängst haben wir gemeinsam an den 70. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 erinnert. Als jemand, der seit über drei Jahrzehnten in der Erforschung der gescheiterten Revolution und öffentlichen Vermittlung darüber aktiv ist, machte mich der öffentliche Rummel nachdenklich, obwohl ich involviert war. Geradezu irritiert war ich darüber, was auf einer Tagung im Bundestag zum 17. Juni 1953 zu hören war.

Bevor ich eine kurze Keynote vortrug, sprach ein Regierungsmitglied. Und dieses sagte dort mehrfach, wir müssten mehr wissen, wir wüssten zu wenig. Als ich nach dem Herrn an der Reihe war, reagierte ich auf seine Aussagen und entgegnete: Nein, wir wissen nicht zu wenig. Wir wissen vieles sehr präzise, seit vielen Jahren. Aber wir haben keine Chance, gegen die Ignoranz zwischen den Festjubiläen anzukommen.

DDR-Geschichte steht nicht auf den Uni- und Lehrplänen

Diese Ignoranz spiegelt sich nicht nur in den ahnungslosen Worten des Regierungsmitglieds. Solche Äußerungen siedeln auf einem festen Grund fehlender Verstetigung, fehlender Strukturen. Im Vorfeld des 70. Jahrestages versuchte ein Berliner Journalist, an irgendeiner Universität einen Historiker zu finden, der aktuell über den 17. Juni 1953 forscht. Fehlanzeige.

Die DDR- und Kommunismusgeschichte ist universitär fast nirgends strukturell verankert. Oft hängt es von der zufälligen Entscheidung einer Lehrkraft ab, ob DDR- und Kommunismusgeschichte in der Lehre vorkommen. Es ist heute der Normalfall in Deutschland, dass künftige Geschichtslehrerinnen und -lehrer ihr Staatsexamen erhalten, ohne in DDR- und Kommunismusgeschichte unterrichtet worden zu sein. Und wie, frage ich, sollen sie dann an den Schulen DDR- und Kommunismusgeschichte unterrichten?

Der größte Streit über DDR und den Osten tobt im Osten

Anders, als es viele erzählen, tobten seit 1990 die härtesten Debatten um die DDR und Ostdeutschland zwischen Ostdeutschen. Es gab keine von Westdeutschen dominierte DDR- oder Ostdeutschlanddebatte, es gab auch keine Narrative, die vom Westen dem Osten aufgedrückt worden sind. Wer das nicht glaubt, sollte das gerade erschienene und von einschlägigen Personen und Institutionen zu verhindern versuchte Buch „Umkämpfte Vergangenheit“ von Rainer Eckert lesen.

Wir ringen um etwas, was die meisten meiner Beobachtung nach nicht erkennen. Egal, ob es um die AfD und andere Extremisten, um den Kampf der Ukraine gegen die drohende Vernichtung durch die russische Massenvernichtungsdiktatur oder um die Debatten um Totalitarismus, Kommunismus, DDR-Geschichte geht: Im Kern geht es dabei abseits akademischer Debatten um Freiheit.

Freiheit kann man nur in der Freiheit verraten

Als ich 1990 Bundesbürger wurde überraschte mich eines ganz besonders: Wie viele Menschen in der Bundesrepublik verächtlich über Freiheit redeten. Mich überraschte, wie viele gerade jüngere Menschen, die nichts weiter kannten als die freiheitliche Grundordnung der Bundesrepublik, Freiheit als etwas Abstraktes, als etwas Rhetorisches und zugleich als etwas Gewöhnliches, Selbstverständliches ansahen.

Ich erlebte hautnah, wie selbstverständlich die Freiheit genutzt wurde, um eben diese zu denunzieren. Nun erst lernte ich, dass Freiheit eben auch bedeutet, die Verächter von Freiheit in ihren Rechten zu achten und zu schützen. Ich lernte schnell nach 1990 eine Lektion: Freiheit kann man nur in der Freiheit verraten. Und ich lernte, der Freiheitsverrat in der Freiheit ist verbreitet, sehr verbreitet.

Wider die Verklärung der kommunistischen Vergangenheit

In den letzten Jahren ist dieser Freiheitsverrat zu einer Art Volkssport ausgeartet. In Ostdeutschland ist das nicht nur daran zu sehen gewesen, wie die SED als PDS, als antiwestliche Strömung wieder und wieder reüssierte. Sondern dann auch am rasanten Aufstieg der AfD und schließlich, was mich in einem besonderen Maße erschreckte, am Umgang mit dem russischen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine.

Ich glaube, in all diesen Beispielen lässt sich ein Grundmotiv unter mehreren immer wieder finden: Eine Verzeichnung der Vergangenheit, eine Verklärung der kommunistischen Vergangenheit, eine unaufgearbeitete Vergangenheit. Die Fortwirkung der kommunistischen ideologischen Dauerindoktrination ist besonders gut am Umgang großer Teile der ostdeutschen Gesellschaft mit den russischen Massenverbrechen zu beobachten.

Niemand kommt aus einer Diktatur ohne Blessuren

Vor wenigen Wochen war ein Interview von mir in der Frankfurter Allgemeinen übertitelt mit „Ich bin nun mal diktaturgeschädigt“ – ich konnte nichts für den Titel, sehr wohl aber etwas für die Aussage. Das war keine zufällige Aussage, sondern eine, die bewusst machen soll: Natürlich kommt niemand – ich betone: niemand – aus einer Diktatur ohne Blessuren, ohne Folgen, ohne langanhaltende Wirkungen heraus.

Ich glaube fest daran, dass nicht das Beschweigen, sondern nur das laute Bearbeiten, die Verarbeitung etwa des ideologischen Dauerfeuers, die alle in der Diktatur ausgesetzt waren, zur Überwindung in einem selbst führen kann. Die klassische Annahme schon in der Diktatur – links rein, rechts raus – ist lieblich und naiv, sie hatte in der Diktatur sogar etwas Subversives. Aber tatsächlich funktioniert die Überwindung nur im Rahmen offensiver Auseinandersetzungen damit.

Warum wird Joachim Gauck so anhaltend verachtet?

Können Sie sich daran erinnern, wie der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck immer und immer wieder wegen seiner Freiheitsrhetorik verachtet und verhöhnt worden ist und es bis heute wird? Das tat mir immer geradezu körperlich weh. Und ich fragte mich: Was kann ich als Zeithistoriker tun, um meinen Teil dazu beizutragen, Freiheit als jenen Wert zu verteidigen, der erst alles andere ermöglicht?

Ich war immer von dem Gedanken getragen, die wissenschaftliche Zeitgeschichte müsse auf zwei Standbeinen ruhen. Da wäre die wissenschaftliche Rekonstruktions- und Analysearbeit, die in einem überschaubaren Rahmen erfolgt. Wir wissen, dass unsere Möglichkeiten begrenzt sind, unser Spezialwissen allein mit wissenschaftlichen Werken in die Gesellschaft zu tragen. Mir war es daher immer auch wichtig, Übersetzungsarbeiten in eigener Sache vorzunehmen.

Es braucht den Mut, bekämpft zu werden

Mit anderen Worten: Als Historiker sehe ich mich in der Pflicht, der Wissenschaft ebenso verpflichtet zu sein wie der Gesellschaft, in deren Rahmen ich mich bewege. Ich bin tief davon überzeugt, dass ein Historiker sich darum bemühen sollte, seine Erkenntnisse auch der Gesellschaft nahezubringen, sie für sie zu übersetzen. Das funktioniert nicht, ohne Blessuren dabei zu bekommen. Jedes Radiointerview, jeder Zeitungsaufsatz, jeder Post oder jeder Tweet ist eine enorme Verkürzung, eine Zuspitzung, was in der Wissenschaft selbst kaum akzeptabel ist. Aber es braucht dieses Engagement, auch die Risikofreude dafür, von gewissen Kolleginnen und Kollegen der Zunft verachtet zu werden, um gehört zu werden.

Schauen wir uns die Debatten der letzten Jahre einmal an, so müssen wir feststellen: Offenbar sehen das nur wenige in der Zeitgeschichtsforschung so. Das ist mehr als bedauerlich. Es ist eigentlich eine Form der Selbstpreisgabe. Warum? Um es konkret zu machen: Wenn wir heute abseits wissenschaftlicher Foren über Kommunismus, DDR, Diktaturen reden, so tun wir das eigentlich, um aufzuklären mit der Absicht, Freiheit und Demokratie zu stärken und gegenläufigen Tendenzen entgegenzutreten.

Debatten über die SED sind richtig und wichtig

Wer heute die SED-Diktatur verharmlost, wer glaubt, SED-Staat und DDR-Gesellschaft, ihren Alltag in der Analyse voneinander trennen zu können, tut in meinen Augen nichts anderes, als die Freiheit zu verraten. Freiheit ist ein absoluter Wert, der nicht relativiert werden kann. Öffentliche Debatten über die SED-Diktatur gelten auch der Verteidigung der Freiheit.

In den letzten Wochen wunderte ich mich sehr. Die neue Debatte um die DDR, um Ostdeutschland, um den Kommunismus fand fast ohne Historikerinnen und Historiker statt. Ich habe dafür keine Erklärung. Ich denke, unsere historischen Fakultäten an den Universitäten und Einrichtungen wie das Dresdner nach Hannah Arendt benannte Institut sollten alles dafür tun, dass sich das rasch ändert und sich nicht vor dem Risiko scheuen, bei schnellen Interventionen auch zu irren, Fehler zu begehen. Fehler sind doch unser Geschäft. Wissenschaft lernt daraus – ohne Fehler geht es nicht voran. Nur die Diktatur verzeiht und vergisst keine Fehler.

Unser Autor Ilko-Sascha Kowalczuk (56) ist einer der renommiertesten Historiker Deutschlands und einer der wenigen wirklichen Experten in Sachen DDR-Geschichte. Unlängst erschien der erste Band seines großen Biografie-Projekts „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ (C. H. Beck, 1006 S., 58 Euro).